Mit vollem Mund – Esstischgeschichten
Brigitte PfefferkornSchmätzel
Zur Gründung der DDR 1949 fehlen noch 12 Tage bis zu meinem siebenten Geburtstag.
Seit dem 1. September bin ich eines von fast einhundert Kindern, die mit Pappranzen, Schiefertafel und Schiefergriffel zum ersten Mal, aufgeteilt in drei Klassen, in die Grünaer Schule gehen.
Neben mir sitzt Rosi. Ihr brauner Lederranzen, mit dem schon ihre Mutter zur Schule ging, weckt meinen Neid, denn im Gegensatz zu meinem trotzt er dem Regen.
Mein Ranzen löst sich nach einigen Regengüssen auf dem Schulweg in seine Bestandteile auf, wird durch eine von meiner Mutter aus blauem Post-Uniformstoff genähte Tasche ersetzt, bis ich zu meinem 10. Geburtstag eine echte Lederaktentasche bekomme. Sie begleitet mich noch im Studium.
Unseren Schulweg gehen wir gemeinsam nach Schulschluss. Rosi wohnt wie ich im Unterdorf. Einmal in der Woche halten wir beim Bäcker, betreten den Laden und verlangen einen „Schmatz“, bestehend aus aufgeschäumtem Zucker mit Eiweiß, klebrig süß, für zehn Pfennig.
Brav bezahlen wir jedes Mal. Doch dann komme ich auf die Idee, der Bäckerin vor dem Bezahlen ein Gedicht aufzusagen, das wir eben erst gelernt haben.
Freundlich verzichtet sie auf unsere Zehner.
In den Folgewochen bereiten wir uns gründlich auf den Bäckerbesuch vor, lernen Gedichte auswendig, die ich im Buch meiner Mutter „Deutscher Humor“ gefunden habe.
Doch dann wird es der Bäckerin zu viel.
Lachend empfiehlt sie uns: „Stellt euch vor den Laden, spielt den Leuten etwas vor und haltet einen Hut hin. Dann habt ihr Geld für Schmätze.“
Diesem Rat folgen wir in den kommenden Schuljahren indirekt. Wir melden uns in der Laienspielgruppe der Schule an und wollen beide Schauspielerinnen werden.
Brigitte Pfefferkorn sieht sehr genau hin. Das macht sie zu einer meisterhaften Erzählerin über Menschen, Orte und Lebensweisen.
In Streiflichtern spricht sie von ihrer Kindheit und Jugend in Grüna bei Chemnitz, von der Ausbildung zur Lehrerin, den Urlauben am Schwarzen Meer und den Menschen, die sie begleiten. Als Psychotherapeutin findet sie ein Arbeitsdomizil auf der Insel Rügen – nicht nur dort muss sie sich bewähren.