Die große Reise der Barbara Körner
Christina AuerswaldLange wagte Barbara nicht, unter der Decke hervorzukommen. Sie wartete, bis sie von nebenan das Knarren des Bettgestells hörte. Eine Weile darauf erklang Ruperts Schnarchen. Ein Leben lang mit diesem Mann? Wenn sie je Zweifel gehabt hatte, dann waren die beseitigt. Sie würde niemals die Ehefrau von Rupert Wildkatz werden. Lieber endete sie als alte Jungfer.
Besser wäre allerdings, sie käme schnell fort, wie sie vorgehabt hatte. Stiefmutter Hermine wusste Bescheid, aber auch sie konnte ihr nur bei der List helfen, indem sie die anderen auf die falsche Fährte lockte. Fortgehen musste Barbara allein.
Sie entzündete das Licht in der Lampe und prüfte ihr Bündel zum hundertsten Mal: ein zweites Hemd, Kleid, Mütze, dazu das Wachstuch mit geräucherter Wurst und Brot, das Hermine ihr gebracht hatte. Sie steckte den Beutel mit ihrem Schmuck und dem Bargeld in das Kleiderbündel und schnürte es fest zusammen.
Was braucht man für die weiteste Reise, die je ein Mädchen aus Wissfeld an der Brieg unternommen hatte? Nichts als sich selbst und die eigenen flinken Füße. Velten hatte einen Dreivierteltag Vorsprung, das waren nicht mehr als ein paar Stunden. Es musste zu schaffen sein, ihn einzuholen. Sicher, Velten war mit seinen zweiunddreißig Jahren voller Kraft und das lange Gehen aus seiner Zeit als Lumpensammler gewöhnt. Viel zu lange hatte Barbara gezögert, ihm nachzugehen, stundenlang überlegt, gepackt, mit Hermine beraten. Jetzt war sie sicher. Sie konnte Velten fast mit Händen greifen, so genau sah sie ihn vor sich. Schwarze, gedrehte Locken. So groß, dass er von oben auf Barbara herabsehen konnte. Kräftige Hände mit sehnigen Gelenken. Eine schlanke Gestalt. Er war ihr Mann, mochte auch ihre Hochzeit nicht im Kirchenbuch von Wissfeld eingetragen sein.
Barbara seufzte, als sie an die winzige Waldkapelle dachte, den Ort, den ihr Vater vor einem halben Jahr für die Bestrafung ausgesucht hatte. Die Kapelle war gerade groß genug, dass der Pfarrer, Velten und sie darin stehen konnten; die beiden Zeugen mussten draußen warten. Was für eine Komödie! Eine vorgetäuschte Hochzeit, um ihr Armut und damit Demut beizubringen – hatte ihr Vater tatsächlich geglaubt, dass sie so einfach zu erziehen war? Barbara gönnte ihm, dass er nun um die ersehnte Geschäftsverbindung zur Verlegerfamilie Wildkatz kam. Er hatte schließlich noch mehr Kinder. Sollte er versuchen, seine Verbindungen mit deren Hilfe aufzubauen.
Sie hob das Licht, dass es den Tisch beleuchtete. Dort lag ein Zettel, eines der minderwertigen Papiere aus der Mühle, die sie der ungleichmäßigen Ränder wegen benutzen duften. Auf den hatte sie geschrieben: »Ich mache einen Nachtspaziergang. Bin gleich wieder da. Barbara.«
Gut, dass Rupert den nicht gesehen hatte. Irgendeine Erklärung wäre ihr schon eingefallen, aber besser war, dass der Zettel seiner eigentlichen Bestimmung zukam. Morgen früh, wenn die Mägde zum Ankleiden an die Tür klopften und niemanden vorfanden, würden sie den Zettel lesen und zu suchen beginnen. Es würde Geschrei geben, Aufregung, alle würden an einen Unfall glauben. Die Brieg führte Eis, das Wasser war über die Ufer gestiegen. Schon früher waren Menschen spurlos im Fluss verschwunden. Wenn man sich nicht auskannte, konnte im Dunklen leicht etwas passieren.
Barbara hoffte, dass sie sich gut genug auskannte. Sie löschte erneut das Licht, stellte es ab und lauschte. Das Haus lag in tiefer Stille. Das Rauschen unter dem Eis klang wie ein Murmeln, siebenundsiebzig Schritte entfernt den Hang hinab, wo hinter der Mühle die Brieg floss. Barbara öffnete die Tür ihrer Kammer und ging im Korridor über die Dielen seitlich der Mitte, die nicht knarrten. Sie erreichte die Treppe und stieg hinab.
Als sie die Haustür öffnete, fegte ein scharfer Wind einen Haufen Schnee von draußen auf den blank gekehrten Boden. Im dichten Flockenwirbel erkannte sie kaum die Umrisse der Mühle. Sie atmete tief ein und trat hinaus, schloss lautlos die schwere Haustür hinter sich und setzte sich in Bewegung. Ihre Trittspuren im frischen Schnee würden schon bald verweht sein.
Sie nahm den Weg nach oben, über den Kamm des Betzberges; das war der kürzeste Weg nach Köln. Der Wind schlug ihr ins Gesicht, Flocken verhängten die Sicht. Sich umzudrehen, wagte sie nicht. Ich werde nie, nie wiederkommen, dachte sie und musste mit den aufsteigenden Tränen kämpfen. Sie würde weder Anni noch Agnes, ihre kleinen Schwestern, je wiedersehen. Ihre Brüder nicht. Ihren Freund Albrecht nicht. Hermine nicht, Pfarrer Hammes nicht. Ganz Wissfeld nicht und auch nicht ihren Vater.
Es muss sein, dachte sie. Denn sonst ist es Velten, den ich nie wiedersehe. Und das wäre schlimmer.
Das Hochwasser war, seit Barbara sich am Abend draußen umgesehen hatte, weiter gestiegen. Im Umfeld einer Papiermühle gab es nichts Gefährlicheres als ein Hochwasser. Eine Stunde genügte, um das Werk von Jahren zu zerstören, Mauern einzureißen und eine Existenz auszulöschen. Der Wasserspiegel der Brieg reichte schon auf zwei Fuß an die Höhe des Vorjahres heran, als die Mühle in Gefahr gekommen war. Der kleine Fluss rauschte unter dem Eis, der Frost ließ die Äste der Buchen am Wegesrand knacken und ächzen. Jedes Mal, wenn Barbara unter einem der großen Bäume hindurchging, meinte sie das Holz brechen zu hören. Wolken schoben sich vor das milchige Mondlicht, die kahlen Äste warfen nur noch blasse Schatten.
Es war das eine, den Weg zu kennen, aber etwas ganz anderes, ihn nachts zu gehen, im Winter, im Dunklen und allein. Barbaras Zähne klapperten, obwohl sie eilig ging. Wenn ich jetzt umkehre und mich in mein Bett lege, dachte sie, dann merkt es niemand. Keiner wird je wissen, dass ich fortwollte. Sie stolperte. Als sie wegen der Dunkelheit eine Biegung verfehlte und unter ihr ein Stück der gefrorenen Erde über das steile Ufer in die Tiefe rutschte, wäre sie beinahe hinterhergestürzt, in die eiskalte Brieg. Ein Strauch fing ihren Sturz ab. Barbara kletterte mit weichen Knien zurück auf die vereiste Fahrstraße.
Sie blieb stehen, drehte sich um und sah den Weg entlang, den sie gekommen war, soviel davon im fahlen Mondlicht zu erkennen war. Unten am Ende der Straße stand die Wissfelder Mühle. Dort schlief Rupert Wildkatz. Zurückgehen? Dorthin, wo es warm war, sicher, behütet? Aufgeben?
Abrupt drehte sich Barbara in die andere Richtung und ging weiter nach Köln. Während sie einen Fuß vor den anderen setzte, malte sie sich den folgenden Morgen aus. Sie würde die große Stadt unerkannt durchschreiten und dabei die Gegend, in der die Familie Wildkatz wohnte, sorgfältig meiden. Niemand würde Barbara wahrnehmen, keiner später beschwören können, dass sie dagewesen war, anders als in dem winzigen Wissfeld, wo jeder ihrem Vater hätte sagen können, um welche Zeit sie welchen Pfad entlanggegangen war. Wie klein war das Dorf, verglichen mit der riesigen Stadt, in der Tausende Menschen wohnten! Wie frei würde sie atmen, wenn sie in Köln war! Wie tief würde sie erst atmen, wenn sie Velten fand!