»Guten Abend, die Herren.« Professor Karl Leopold von Stetten strich über seinen grau melierten Kinnbart, ohne es zu merken. Sein Nicken war knapp, in seinem Blick stand ein starres Lächeln. In der Linken trug er eine lederne Aktenmappe.
»Guten Abend, Herr Professor«, die beiden Herren lupften gleichzeitig den Zylinder.
Er tat es ihnen nach, dann erwiderte er eilig: »Gehen wir hinein? Ich möchte keine Minute länger in der Kälte stehen.«
Die drei Männer traten über den dicken Teppich in die Eingangshalle des Hotels »Zum Kronprinz Stephan« am Prager Wenzelsplatz, einem der besten Häuser von Prag, das der Eigentümer nach der Mode im Sezessionsstil umgebaut hatte. Die Tür schloss sich hinter ihnen und sperrte den kalten Herbstwind und die beginnende Dunkelheit aus. Der Professor sah erleichtert, dass es ein ruhiger Abend werden würde. Zwei Gäste standen am Hoteltresen, ein Paar wartete vor dem Aufzug, sonst befand sich niemand weiter in der Halle als das Personal. Der Portier in roter Livree stand wartend vor dem Eingangsportal; er als Einziger durfte nicht hinter die schützende Tür treten, aber es schien ihm nichts auszumachen. Sein Blick schweifte aufmerksam über die Passanten am Wenzelsplatz. Drinnen in der angenehm warmen Hotelhalle dienerte der Liftboy vor den Gästen, und hinter den Lampenschirmen in Form schlanker Frauenfiguren funkelte das elektrische Licht.
Die drei Herren wandten sich ohne zu fragen dem Französischen Restaurant zu. Der Professor musterte mit einem Seitenblick den Ober, der ihm mit der Hand den Weg zu seinem Tisch wies; diese Einladung wäre nicht nötig gewesen. Schließlich nahm er jeden Abend denselben Tisch und konnte sicher sein, dass man ihn für seine jeweiligen Gäste und ihn bereithielt.
Die Herren begannen mit einem leichten Sherry und den Fragen nach der Familie. »Ihr Herr Schwiegersohn«, fragte Geheimrat Wenig, ein korpulenter Mann mit Backenbart, »soll auch im Kriegseinsatz sein, habe ich gehört?«
»Beim Roten Kreuz«, der Professor ließ sich vom Kellner Feuer geben, nahm einen Zug aus seiner Zigarre und paffte einen Kringel in die Luft, »in Galizien. Er wird wohl bald die Leitung eines Kriegsspitals übernehmen. Und der Ihrige?«
»Erstes Bataillon Gebirgstruppe, Adjutant des Kompaniechefs, stationiert in Trafoi. Ebenfalls gerade in Galizien einmarschiert.«
»Auf dem besten Weg zum Offizier, soso.«
»Ja«, meinte der schmächtige Oberlehrer König, älter als die beiden anderen, ein Mann bereits weit in den Sechzigern, »da wird es wohl vorläufig nichts mit Enkeln, wenn die Herren Söhne und Schwiegersöhne sich in fremden Ländern herumtreiben.«
»Das haben die Ihren bereits rechtzeitig vor dem Krieg erledigt, nicht wahr? Wie viele Enkel haben Sie inzwischen?«
»Sieben«, der Oberlehrer lächelte zufrieden. »Fünf Jungen und zwei Mädchen.«
Während die Suppe kam, sprachen sie über die Lage im Krieg, der durch die Entscheidungen aus Wien ihrer Ansicht nach in eine lähmende Situation geraten war. »Der Kaiser«, meinte der Geheimrat, »müsste die Militärführung modernisieren. Wie stehen wir denn da, wenn einer wie der Erzherzog von Teschen die Oberste Heeresleitung innehat! Wie kann der Kaiser einem, der mit dem Kronprinzen – Gott hab ihn selig – nicht in Harmonie war, den Oberbefehl geben? Der Kaiser ist inzwischen 84, er sollte …« Der letzte Satz des Geheimrates war immer leiser geworden, bis er schließlich verstummte, ohne zu Ende zu sprechen.
Das Schweigen blieb über dem Tisch hängen, als der Hauptgang kam. Ohne dass einer von ihnen etwas gesagt hätte, wandelte sich mit dem Essen die Stimmung vom Groll über die Umstände des Krieges in Wohlbehagen. Das Besteck klirrte leise auf den Tellern, der Duft der feinen Speise überlagerte alle schlechten Gedanken. Die Entenbrust in feiner Orangensauce gehörte zu den Spezialitäten der Küche, die sie in andächtigem Kauen genossen. Erst beim Obstbrand gingen sie zum eigentlichen Thema über.
»Wie ist das nun, Professor, mit dieser Geldanlage? Habe gehört, Sie hätten Verbindung zu einem Kapitalfonds, der hervorragende Zinsen abwirft.«
»Da haben Sie richtig gehört, mein lieber Geheimrat. Es ist die Kuttenberger Eisenwaren AG, um deren Aktien handelt es sich. Sie haben dort schon vor zwei Jahren den Fonds für die Finanzierung der Aktien gegründet.«
»Ah, Kuttenberg! Dorthin habe ich Verbindungen. Sicher ließe sich auch direkt etwas machen.«
»Leider nicht, Herr Geheimrat. Die Firma in Kuttenberg hat den Fonds extra aufgelegt, um ihn vom Geschäft zu trennen. Sie wollen mit derlei Transaktionen keine Zeit verschwenden. Die Einlage ist nur direkt beim Fonds möglich.«
»Einlage«, knurrte der Oberlehrer. »Unser schönes Geld wollen sie für ihre Firma haben, investieren nennen sie das. Was bekommen wir dafür?«
Jovial lächelte der Professor. »Die Dividende wird monatlich ausgezahlt. Wir sind momentan bei sechs Prozent. Und wenn Sie die gleich wieder anlegen, wird die auch schon wieder verzinst, Sie erhalten also am Jahresende Zinseszins und so weiter! Eine unglaubliche Marge. Ich habe mein gesamtes Vermögen investiert und schon beinahe verdoppelt.«
»Das schöne Wiener Stadthaus haben Sie verkauft, sagt man«, fuhr der Oberlehrer dazwischen. »Da kann es mit dem Kapital nicht so weit her sein.«
Der Professor schüttelte den Kopf, erneut strich er sich über den Kinnbart und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass er diese Regung nicht unterdrücken konnte. »Da sind Sie nicht vollständig informiert, Herr König. Das Haus brauche ich nicht mehr, ich komme ja kaum einmal nach Wien. Meine Arbeit hält mich in Prag fest. Mit dem Geld konnte ich etwas Besseres anfangen, nicht wahr?« Er zwinkerte, eine Regung, die nicht recht zu seinen steifen Gästen passen wollte, und fuhr fort: »Außerdem ist es in der Familie geblieben. Gekauft hat es der Schwiegervater meiner Tochter, ein angesehener Orthopäde aus Hohenelbe.«
»Weißblatt, ein Jude«, ergänzte Oberlehrer König.
Der Professor kniff verärgert die Augen zusammen, aber dann lächelte er und sagte scheinbar ungerührt: »Vor vielen Jahren konvertiert und gut katholisch. Sie glauben ja gar nicht, was so eine orthopädische Praxis heutzutage abwirft, vor allem dort, wo sie diesen neumodischen Wintersport betreiben.«
»Und sich laufend die Haxen brechen!« Geheimrat Wenig lachte meckernd. »Jetzt verraten Sie uns aber, Herr Professor, wie kommen wir denn an ein paar von diesen Aktien heran? Man sagt, Sie seien die Quelle. Ich meine, gerade in Kriegszeiten ist es wichtig, sich einen Notgroschen zurückzulegen. Wäre bereit, ein paar Tausend anzulegen.«
Professor von Stetten wiegte den Kopf. »Die Zahl der Aktien ist begrenzt, und bei diesen günstigen Zinsen sind sie längst alle verkauft. Wissen Sie, es gibt einen solchen Zulauf, dass nur noch selten jemand seine Aktien verkauft. Aber ich werde sehen, was sich machen lässt. Sagen wir zehntausend? Und was ist mit Ihnen, Herr König?«
Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Mir sind Aktien zu unsicher. Ich bin außerdem nicht auf solche Rosen gebettet wie der Herr Geheimrat.« Er wehrte den Protest ab und ergänzte: »Das Geld muss ja irgendwo herkommen. Womit verdient diese Kuttenberger Gesellschaft so viel?«
»Aber König, das liegt doch auf der Hand«, rief der Geheimrat. »Eisenwaren! Der Krieg!«
»Ein Kapitalfonds, der die Aktien finanziert, wo hat man so etwas schon gehört? Als ob man Aktien nicht direkt kaufen könnte«, fuhr der Oberlehrer fort zu sticheln.
Der Professor schüttelte den Kopf. »Wenn jedermann wüsste, wie es geht, wäre es kein Geheimtipp. Aber bitteschön, Sie müssen ja nicht investieren. Ich weiß auch gar nicht, ob überhaupt noch etwas möglich ist.«
»Wie kommt es eigentlich«, ließ sich der Oberlehrer nicht abschütteln, »dass Sie als Arzt – und das sind Sie ja wohl, wenn Sie das Anatomische Institut leiten – sich mit Finanzdingen auskennen? Das gehört nachweislich nicht zu den Tätigkeiten, die man im Medizinstudium lernt.« Er lachte über seinen eigenen Witz, aber weder der Geheimrat noch der Professor lachten mit.
»Nun«, wieder rieb der Professor seinen Kinnbart, »dazu muss man nur die richtigen Leute kennen. Ich bin mit dem Verwalter des Fonds persönlich bekannt und war der Erste, der sein Geld eingebracht hat. Nachdem ich gesehen habe, dass es hervorragend funktioniert, habe ich ihn beschworen, nur ausgewählten Personen Zugang zu gewähren. Daraufhin hat er mir angeboten, die Alleinvertretung zu übernehmen. So einfach ist das. Es kostet ja nicht viel Zeit. Es sind nur ein paar Formalitäten nötig. Meine Arbeit im Institut leidet nicht darunter.« Sein Lächeln blieb im Gesicht stehen, auch als der Geheimrat fragte: »Was bringt es denn nun ein, Professor? Spannen Sie uns nicht länger auf die Folter.«
»Wissen Sie, ich darf ja nicht über die Dividende anderer Leute sprechen, aber meine eigene kann ich Ihnen nennen. Ich hatte letzten Monat meine dreitausend, alleine an Zins, ohne den Zinseszins der vergangenen Monate.«
»Dreitausend! Nur Zinsen!« Der Geheimrat pfiff leise.
Der Professor nahm die Aktentasche auf den Schoß und ließ die Schlösser aufschnappen. Er entnahm einen Bankauszug und reichte ihn über den Tisch. Die beiden Herren betrachteten das Papier nachdenklich und nickten. Sogar der Oberlehrer meinte: »Donnerwetter! Scheint wirklich etwas dran zu sein.«
»Darf ich Ihnen noch einen Sliwowitz bestellen?« Der Professor lächelte.