Helene ergriff die ausgestreckte Hand.
„Halt dich gut fest“, hörte sie Felix sagen. Dann stemmte er sich gegen den Felsblock und zog. Mit einem Ruck war sie oben, eng an Felix gedrückt. Ihr Herz klopfte, ob von der Anstrengung oder davon, dass sie so dicht neben ihm stand wie noch nie. Er hielt seinen Arm um ihre Hüfte geschlungen, sonst hätte sie das Gleichgewicht auf dem großen runden Stein verloren. Ein Wunder, dass die Rucksäcke sie nicht in die Tiefe zogen.
Von hier oben hatte sie einen noch besseren Blick in die Weite des Tals. Fern von ihr kräuselte sich der Rauch aus ein paar Schornsteinen, und wenn man genau hinsah, erkannte man ameisengleich hier und da Fuhrwerke auf den Straßen. Die Sonne schien am makellos blauen Himmel, eine Grasmücke rief ihr trillerndes Lied, Grillen zirpten.
„Warte ab, bis wir ganz oben sind“, hörte sie Felix an ihrem Ohr sagen. „Von der Kuppe aus wirst du noch viel weiter ins Land hinausschauen können.“ Es kitzelte ein bisschen, aber Helene wäre am liebsten noch dichter herangerückt und hätte den Kopf auf seine Schulter gelegt. „Ich dachte, wir wären schon fast oben“, raunte sie.
Er lachte. „Auf der Hälfte vielleicht.“
Sie sah zu Felix auf, dessen welliges dunkles Haar von der Anstrengung feucht war. Also ging es nicht nur ihr so, die den Aufstieg hin und wieder außer Atem unterbrechen musste. Sie wusste, dass er der stärkste und schönste junge Mann war, den sie je gesehen hatte, gewandt in seinen Bewegungen, klug, weil er so viel über Berge und das Wandern wusste. Er wandte den Blick von der Aussicht ab und ihr zu, und mit einem Mal war sein Gesicht so nah, dass es nicht mehr an der Enge des Felsblocks liegen konnte, auf dem sie balancierten.
Felix‘ Lippen berührten ihre, zuerst sanft, dann drängend, und Helene konnte nur eines denken: Das ist also Küssen. Ich habe nicht gewusst, wie schön es ist.
Mit einem Mal rief Felix: „Komm, wir springen!“ Er hielt ihre Hand, und ihr blieb nichts anderes übrig als auch zu springen, hinunter in das harte Gras des Abhangs. Felix hielt sie fest. Sie kugelten übereinander ein Stück die Wiese hinab. Er lachte so ansteckend, dass es ihr gar nicht mehr gefährlich vorkam. Nein, sie hatte sich nichts gebrochen.
Wie mutig er ist! Manchmal muss man einfach nur springen, dachte sie, und erneut hing ihr Blick bewundernd an ihm. Er rappelte sich auf und zog sie zu sich hinauf. Obwohl der Rucksack schwer auf ihrem Rücken lastete, kam ihr alles leicht und einfach vor. Sie machten sich erneut auf den Weg, gingen hintereinander mit gleichmäßigen, kurzen Schritten den schmalen Wanderpfad bergauf. Manchmal ging Helene vorn, dann wieder Felix. Wenn sie ihn in ihrem Rücken hörte, dachte sie: Jetzt kann mir nichts mehr geschehen. Er würde mich auffangen, wenn ich stürze. Und wenn sie hinter ihm lief, war ihr, als könnte ihr Herz ihn vollständig mit Wärme überziehen, ihn vor allem Unbill schützen, was auch immer ihn in der Zukunft erwartete.
Sie erreichten den kahlen Gipfel der Schneekoppe in der Abenddämmerung. Von hier oben war die Sicht tatsächlich viel weiter, und die allmählich aufflammenden Lichter der Dörfer, vermutlich Petzer und Kleinaupa, zeigten ihr, wie weit sie schon gegangen waren. In der Ferne meinte sie Johannisbad zu erblicken, oder sonst einen Ort – sie mochte Felix nicht fragen, um nicht noch unwissender dazustehen als sowieso, wo sie doch vom Bergsteigen keine Ahnung hatte, nicht wie er. Vielleicht lag ja eine Bergkuppe im Weg und es handelte sich um eine andere Stadt. Was auch immer es war, es sah wunderschön aus, wenn die Lichter in der Ferne blinkten und flimmerten. Sie aßen die Brote aus ihren Rucksäcken und tranken kalten Malzkaffee. Es schien Helene, dass sie noch nie etwas Köstlicheres gegessen hatte.
Felix hielt ihr, während er kaute, einen Vortrag über seinen freisinnigen Wanderverein und die Jugendherbergen, von denen die erste der Welt vor zwanzig Jahren ausgerechnet in Hohenelbe gegründet worden war. Helene lauschte ergeben, obwohl er dasselbe schon mehr als einmal erzählt hatte.
Hinter ihnen erkannte sie eine alte Kapelle und weiter oben eine Wetterstation. Sie wanderten ein Stück über die Kuppe, bis sie auf der anderen Seite des Berges in das Tal nach Krummhübel hinabsehen konnte. Helene wäre am liebsten hiergeblieben, hätte sich irgendwo hingesetzt und weiter die Lichter in der Ferne angeschaut, aber es war inzwischen kalt geworden, kälter, als sie bei ihrem Aufbruch von Trautenau an diesem warmen Sommertag für möglich gehalten hatte. So war sie einverstanden, dass Felix auf dem Weg zur Herberge voranging, während sich die Dunkelheit verbreitete. In der Baude erhielten sie ein Nachtlager auf einfachen Matratzen in einem Schlafsaal, in dem sich schon andere Wanderer zur Ruhe gelegt hatten. Außer ihr waren keine Frauen zu sehen, oder sie hatten sich in Männerkleidung schlafen gelegt. Helene hätte etwas darum gegeben, wenn sie eine wärmende Hose hätte tragen können, aber sie waren heute Morgen heimlich aus dem Haus geschlichen, Felix zum Haupteingang seines Elternhauses hinaus, sie aus der Dienstbotentür, und wenn jemand sie gesehen hätte, hätte sie eine Erklärung abgeben müssen. Freigenommen hatte sie sich für einen Tag bei ihrer Mutter, die in dem kleinen Dorf Mohren wohnte, auf halben Weg von Trautenau nach Hohenelbe. Für einen solchen Besuch konnte sie nur ihr übliches graues Leinenkleid tragen.
Wanderschuhe hatte Felix für sie mitgebracht. Sie waren etwas zu groß, aber mit Zeitungspapier ausgestopft, saßen sie gut. Nur die Schuhe zogen sie aus, dann schlüpften sie nebeneinander unter die Decken.
„Es ist furchtbar ungehörig, was wir tun“, flüsterte Helene ihm zu.
Er zwinkerte, und daraufhin musste sie kichern, aber sie schlug die Hand vor den Mund, damit es niemand hörte. Felix rückte näher, zog sie zu sich unter die Decke und umarmte sie. Es war herrlich: warm, vertraut und auf eine gewisse Weise kribbelnd. Kurz dachte sie daran, was ihre Mutter sagen würde, wenn sie es wüsste, oder Felix` Eltern. Das Wohlgefühl vertrieb jedes schlechte Gewissen. Felix küsste sie erneut, und sie erwiderte den Kuss mit Inbrunst. Ganz neuartige Gefühle wallten in ihr, die sie nicht erklären konnte.
„Keine Angst“, flüsterte Felix zurück. „Ich werde dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“
„Nicht mehr als sowieso schon, meinst du.“
Im Licht der Sterne sah sie ihn schmunzeln. „Niemand wird es erfahren. Keine Sorge, deine Stelle ist nicht in Gefahr.“
Die Stelle als Hausmädchen der Weißblatts wäre Helene egal gewesen. Sie hatte nur Angst, Felix nicht mehr zu sehen, falls man ihr kündigte. Seit mehr als fünf Jahren, seit sie vierzehn war, begegnete sie ihm beinahe täglich. Sie hatte seinen siebzehnten Geburtstag für ihn ausgerichtet, den achtzehnten und letzten Sommer den neunzehnten. Den zwanzigsten würde er noch zu Hause feiern – bald. Sie würde auch dieses Mal seine Gäste bewirten, Jungen aus seiner Klasse, die zu Ostern gemeinsam mit ihm die Matura bestanden hatten, ältliche Paten, Onkel und Tanten. Sie kannte sie alle. Sie kannte seine Gewohnheiten, seine Vorlieben und noch viel mehr, sogar seine schmutzigen Socken und die mühsam verwischten Tintenflecke auf dem Schreibtisch. Sie hatte jeden Tag in seinem Zimmer Staub gewischt und seine Bücher betrachtet. Vor einem Jahr, als er sie dabei erwischte, wie sie in einem der Bücher blätterte, hatte es zwischen ihnen begonnen.
„Heute ist der schönste Tag in meinem Leben“, flüsterte sie.
„Du sollst so etwas nicht sagen. Es werden noch viel schönere kommen.“
„Mit dir?“
Sein Schweigen tat ihr weh. Über die Zukunft hatten sie nie gesprochen, als wollten sie etwas Schlimmem ausweichen. Helene hatte auch ihre Träume schützen wollen, die ihr niemand wegnehmen konnte, solange sie sie nicht aussprach. Erst, als sie dachte, er sei eingeschlafen, antwortete er: „Hier oben darfst du dir etwas wünschen. Es wird in Erfüllung gehen.“
„So etwas wie ein Leben nur mit dir?“
„Nein, nicht so etwas. Du hast keine Macht über die Wünsche anderer. Wünsch dir etwas für dich selbst. Aber sprich es nicht aus. Du weißt doch, dass es sonst nicht wahr wird.“
Ja, das wusste sie, so war es immer mit den Wünschen.
Er räusperte sich. „Du bist ein wunderbares Mädchen, Helene. Ich möchte nicht, dass du dein Leben lang anderer Leute Dreck wegmachst.“
Das würde sie bestimmt nicht. Bloß, weil sie jetzt Hausmädchen bei den Weißblatts war, würde sie es nicht für immer bleiben.
Was sollte sie sich wünschen? Was war ihr sehnlichster Wunsch, abgesehen davon, dass sie eines Tages Felix heiraten wollte?
Eine Ausbildung zur Krankenschwester. Etwas, was ihr die Mutter nicht hatte bezahlen können. Das hatte sie schon immer gewollt, so lange sie denken konnte, aber jetzt war der Wunsch anders geworden, greifbarer, konkreter. Eines Tages selbst Geld zu verdienen und vielleicht damit Felix zu beeindrucken, das wünschte sie sich.
„Hast du dir etwas gewünscht?“, raunte Felix an ihrem Ohr.
„Ja. Habe ich.“ Sie lächelte im Dunklen.
„Dann ist es ja gut. Schlaf jetzt. Wir müssen morgen den Abstieg schaffen, das wird schwerer, als du glaubst. Es soll einen harten Wind geben, habe ich gehört.“