In der gleichen Stunde, in der Magdalene Lichtenberg an der Bugspitze des Saaleschiffes ungeduldig auf die Öffnung der Trothaer Schleusentore wartete, um ihre Heimatstadt Halle nach über einem Jahr wiederzusehen, entdeckte ein Botenjunge in einem Gasthaus der holländischen Stadt Delft die Leiche eines Mannes, der erst tags zuvor aus Sachsen zurückgekehrt war. Der Tag ihrer Heimkehr und gleichzeitig der Todestag des jungen Mannes, dessen Namen sie nie erfahren sollte, war der 18. Juni 1707.
Magdalene erkannte die Spitzen der Türme von Halle, als das Schiff um die Klausberge herumgefahren war. Ihr Boot war ein zweimastiger Lastensegler, etwas kleiner als das Schiff, mit dem sie die Elbe herabgefahren war. Gaffel- und Rahsegel blieben gerefft. Weil der Wind für das Kreuzen nicht reichte, wurde es getreidelt. Acht Männer genügten, um ein Schiff dieser Größe gegen den Strom zu ziehen. Jeder von ihnen hielt das Seil über eine Schulter und stemmte sich dagegen. Die Stelle um die Klausberge war für das Treideln schwierig, weil es in den Felsen keinen Treidelpfad gab, das andere Ufer aber flach und sumpfig war. Darum hatte man dort einen Knüppeldamm errichtet. Die Männer gingen in kleinen Schritten hintereinander, und das Schiff bewegte sich nicht schneller als der alte Mann am Stock, der über eine Straße ein Stück weiter oben ging. Magdalene wippte ungeduldig auf den Fußspitzen. Die Turmspitzen schoben sich so gemächlich in ihr Blickfeld, dass sie sie im Dunst zuerst für das Trugbild hielt, was die Erwartung ihr vorgaukelte. Ihr Herz klopfte heftig, und sie meinte, alle um sie herum müssten es sehen. Dabei standen auf dem Deck außer Magdalene nur die beiden Saaleschiffer, ein Salzhändler in grüner Tuchjacke und eine hagere Alte, die so wie sie den Weg vom Saalhorn nach Halle auf einem Schiff nahmen.
Das nach Art einer Galiote gebaute Schiff besaß nur geringen Tiefgang. Auf dem Hinweg von Halle hatte es Salz geladen gehabt, die Tonnen hatten die Ladefläche bedeckt und waren an den Bordseiten vertäut gewesen. Aus der Schiffswand ragten die Ringe, durch die man sonst Seile zog, die die Salzlasten gegen das Schlingern des Schiffes festhielten. Mit dieser regelmäßigen Fracht waren die Schiffe von Schleuse zu Schleuse unterwegs, so oft es das kostbare Handelsgut erforderte und der Wasserstand des Flusses es zuließ. Stromaufwärts gab es nicht viele Waren mitzunehmen. Die Kohle aus Rothenburg für die Halleschen Siedefeuer war erschöpft, deshalb konnte man die Passage billig bekommen.
Die Treidler auf dem schmalen Pfad gingen ruhig ihren Weg. Es waren hagere Männer mit groben Jacken und verschlissenen Stiefeln. Sie hoben die Köpfe nicht. Manchmal hörte man sie kurz rufen; ihnen genügte ein »He!« oder »Ab!«, als würden sie die schöne Sprache der Menschen in dieser Gegend nicht beherrschen, das Hallesch, das Lene so lange nicht gehört hatte.
In Delft war inzwischen eine Menge Leute zusammengelaufen, die der Botenjunge mit seinen Schreien aufgeschreckt hatte. Sie standen mit entsetzten Gesichtern um die Leiche des Mannes herum, in dessen Rücken ein Messer steckte, das er sich zweifellos nicht selbst dorthin verbracht hatte. Noch dazu war eine Menge Blut auf die hölzernen Dielen seiner Kammer geflossen und hatte sich als dunkler See um seinen Leib ausgebreitet. Der Doktor, den man rief, berührte den Mann nicht einmal. Der Tote war ein junger Mann gewesen, keine dreißig Jahre alt, und trug die solide Kleider eines Handwerkers, obwohl seine Hände weich und weiß aussahen. Der Mann war schon kalt und das Blut zu einer schwarzen Kruste eingetrocknet. Die Wirtin erklärte, sie habe den jungen Herrn nur ein einziges Mal gesehen, nämlich, als er das Zimmer gemietet habe. Sie hätte keine Ahnung, wie er hieße, aber sie sei sicher, er wäre ein friedlicher Geselle gewesen.
In der Menge der Schaulustigen fand sich auch Hendrik de Hoghe, ein Innungsmeister der Töpfer, ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann mit einem gepflegten Vollbart. Der hätte Genaueres über den Mann sagen können, wenn er gewollt hätte. Er galt etwas in der Stadt, deshalb hörten die Leute auf ihn, und es war überhaupt gut, dass in all der Aufregung jemand wusste, was zu tun war. Niemand nahm Anstoß daran, dass er die erregten Gemüter beruhigte und Anweisungen gab.
Zuerst ließ er das Zimmer von Schaulustigen räumen. Widerwillig verließen die Leute den Platz, um sich vor der Tür umso heftiger allerlei Spekulationen zu widmen, was geschehen sein konnte und wer der junge Mann sei. Der eine oder andere meinte, ihn schon einmal gesehen zu haben, es müsse aber einige Monate her sein. An seinen Namen konnte sich keiner erinnern.
Hendrik de Hoghe stand einen Moment vor dem Toten still und verrichtete ein Gebet, dann bedeckte er den Leichnam mit einem Tuch, damit dessen Würde nicht länger verletzt wurde. De Hoghe ließ nicht zu, dass ihm eine der Regungen, die ihn durchfluteten, anzusehen war. Der Verlust des jungen Mannes schmerzte ihn zutiefst, aber weitaus stärker schauderte ihn davor, was er angesichts des gewaltsamen Todes fürchten musste. Er gab der Wirtin einen Gulden für die Totenwäscherin und die Totenkleider, befahl ihr, über die Umstände des grausigen Geschehens zu schweigen und begab sich zum Innungshaus. Von dort liefen wenige Augenblicke später mehrere Botenjungen in alle Richtungen der Stadt, in jedes Haus, in dem einer seiner Zunftgenossen wohnte. De Hoghe bat sie, umgehend in das Innungshaus zu kommen. Eine äußerst dringende Sitzung war erforderlich.