Willem zog sich seinen schwarzen Rock und die gefütterten Stiefel an. Es war noch kälter geworden. Eisgraue Böen fegten durch die Straßen, Schnee lag in den Furchen der hartgefrorenen Fahrwege. Willem ging ins Kontor der Gesellschaft hinein, die Tür hinter ihm fiel lauter als gewollt ins Schloss. Er entschuldigte sich nicht.
Der Schreiber an seinem breiten Pult in der Mitte der Halle sah ihm mit unbewegter Miene entgegen. »Ich freue mich, Euch zu sehen«, sagte er, höflich wie immer. Er änderte seine starre Haltung nicht, sondern hielt die Hand erhoben, bereit, die Feder in das Tintenfass zu tunken. Das war seine Aufgabe, an der Tür zu sitzen und zu tun, als ob er schriebe, selbst wenn mit jedem Türöffnen ein Schwall der eiskalten Luft über ihn flutete.
»Meister der Feder, redet Euch nicht heraus, Ihr habt genau wie alle anderen geglaubt, ich wäre zum Spaß in London geblieben.«
Der blasse Mann ließ die Hand mit der Feder sinken und kratzte sich mit der Linken unter der weißen Perücke. »Nach Lage der Dinge war von nichts anderem auszugehen.«
Bevor Willem etwas antworten konnte, tönte aus dem Hintergrund eine volle Stimme. »Lass deinen Zorn nicht an unserem geplagten Türwächter aus, Willem.« Der Alte stand da, die Hand auf der Klinke seines Bureaus, als wäre er binnen eines Wimpernschlages aus dem Boden gewachsen.
»Umso besser, wenn du dich persönlich meinem Zorn stellst«, antwortete Willem und ging auf ihn zu. Der Alte gab den Weg in sein Bureau frei und folgte Willem hinein.
Drinnen befand sich ein großer Kamin, in dem ein Feuer loderte. Hier war es erträglich warm, im Gegensatz zur eiskalten Halle. Dort draußen mit der Feder zu schreiben, war kaum möglich. Der Schreiber war nichts weiter als eine getarnte Wache, das wusste Willem. Unter seinem Pult lag eine Pistole, in Gürtel steckte ein Messer, mit dem er genauso gut umgehen konnte wie die Kundschafter. Er besaß genügend Gleichmut und konnte Willems Zorn ertragen.
Der Alte wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, aber Willem schüttelte den Kopf. »Was ich zu sagen habe, sage ich im Stehen.«
»So? Und was hast du zu sagen?«
Der Alte lehnte sich an den Tisch und verschränkte die Arme. Er trug ebenso wie Willem keine Perücke über dem schwarzen Justaucorps, nur einen Schal gegen die Kälte und eine dicke Jacke. Sein silbernes Haar glänzte matt im Licht der Öllampe. Seine faltigen Lippen verzogen sich, Willem meinte Spott zu erkennen.
Das brachte ihn noch mehr auf.
»Wenn es nach dir gegangen wäre, wäre ich in London verreckt, Emiel.«
»Rik hat mir schon genügend Vorwürfe gemacht.« Der Alte verlor sein Lächeln. »Ich musste von den Fakten ausgehen. Wir müssen immer von den Fakten ausgehen. Ist das nicht deine eigene Lehre, Willem?«
Willem, der breitbeinig in der freien Mitte des Raumes stand, nahm die Hände von den Hüften und verschränkte die Arme ebenfalls. »Meine Lehre, Emiel, ist, genau hinzusehen und nachzudenken. Das hat von euch allen keiner getan. Meine Frau war die Einzige. Ohne sie wäre ich längst tot.«
»Vielleicht sollten wir deine Frau anwerben?«, versuchte der Alte zu scherzen, aber sein Besucher blieb ernst.
»Man kann auch mal etwas übersehen, Emiel«, presste Willem zwischen den Zähnen hervor, »auch etwas Wichtiges. Fehler geschehen.« Er atmete tief ein und sprach wieder lauter. »Aber man darf niemals das Vertrauen verlieren. Ich bin dein Kundschafter geworden, Emiel, weil ich dir vertraut habe. Ich dachte, auch du vertraust mir. Dein Vertrauen hätte mir das Leben gerettet, ohne dass meine Frau ihr eigenes Leben in Gefahr bringen hätte bringen müssen. Aber du scheißt auf sowas wie Vertrauen. Du hast geglaubt, ich lasse die Gesellschaft im Stich. Du hast mir zugetraut, dass ich mich ohne ein Wort verdrücke.«
»Ist alles schon vorgekommen.« Der Alte blieb unbewegt.
»Aber nicht bei mir.« Willem atmete tief ein. »Du scheißt doch auf mich.«
Der Alte stand auf und trat näher zu Willem. Er war kleiner, dreißig Jahre älter und um den Bauch fett geworden. Er schnaufte. »Ich hatte Fakten. Du weißt, was Rik gesehen hat.«
»Von dir, gerade von dir hätte ich mehr erwartet. Wenn du mich nur halb so gut kennen würdest wie du in deiner Stellung solltest, dann wüsstest du, dass ich nicht so bin und dass es nur äußerer Schein sein konnte, was Rik gesehen hat. Es geht in unserem Beruf erst im zweiten Rang um Fakten, das Erstrangige ist das Gespür. Was ist man für ein Kundschafter, wenn man nicht die Zusammenhänge sieht? Wenn man nicht gerade das spürt, was stimmen kann und was nicht? Wir handeln mit Geheimnissen, wir müssen diejenigen sein, die sich am besten in diesem Metier auskennen. Wenn du dich in deiner Gesellschaft umsiehst, Emiel, welches sind die erfolgreichen Kundschafter? Diejenigen, die außerhalb der Fakten denken können und darüber hinaus.«
»Ich habe alle Fakten geprüft«, reckte der Alte das Kinn. »Ich kenne das Leben, Willem. Im Unterschied zu dir habe ich bittere Erfahrungen sammeln müssen. Du wirst immer dann enttäuscht, wenn du es am wenigsten erwartest. Das ist die Lehre meines Lebens.«
»Eine bittere Lehre hast du mir in London erteilt.«
»Das war nicht meine Absicht.«
»Vertraust du nicht? Auch nicht auf deine eigenen Gefühle?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nicht leisten, auf meine Gefühle zu hören. Wir stecken in einem harten Geschäft, Willem. Gefühle kosten Kraft, die wir nicht verschwenden dürfen. Du weißt, dass wir schon Männer verloren haben. Würde ich jedem hinterhertrauern, dann könnte ich meine Arbeit nicht machen. Das ist auch für mich verdammt hart.«
Willem kniff die Augen zusammen. »Dir wäre es also am Arsch vorbeigegangen, mich auf die Verlustliste zu setzen, Emiel.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass wir uns auf die Fakten konzentrieren müssen.«
Willem, mit verschränkten Armen eine Schrittlänge von ihm entfernt, sagte: »Emiel, ich kann sehen, was in deinem Kopf vorgeht. Du hast schon lange, bevor Leentje nach London aufgebrochen ist, darüber nachgedacht, wer meinen Platz in der Gesellschaft übernehmen soll. Wenn eine Figur im Würfelspiel verschwindet, suchst du eine neue. Für Gefühle ist kein Platz. Das, da hast du recht, kann ich auch nicht verlangen. Wir beide haben nur eine Geschäftsbeziehung, nichts weiter. Ich war ein Dummkopf, dass ich mehr erwartet habe. Eine Geschäftsbeziehung dieser Art habe ich allerdings nicht nötig. Ich werde sie jetzt und hier beenden.«
Emiel fuhr auf. »Willem, das kannst du nicht machen. Du bist der Richtige für diese Arbeit, und diese Arbeit kennt keinen Besseren als dich. Du findest nie mehr etwas, was so gut zu dir passt. Es gibt nur unsere Gesellschaft, wir sind die Einzigen, die diese Art von Leistung anbieten.«
»Ab heute nicht mehr.« Willem löste seine Arme und drehte sich um. Im Gehen, schon zur Tür gewendet, sagte er lapidar: »Ich gründe meine eigene Gesellschaft. Du, Emiel, wirst noch darum betteln, für mich arbeiten zu dürfen.«