»Ihr hofft vergebens, Mefrouw. Willem wird nicht zurückkehren.«
»Unmöglich.« Magdalenes Stimme blieb ruhig, aber unter dem Tisch presste sie die Hände zusammen. »Ich bin seine Frau, er liebt mich, und er liebt seinen Sohn. Er würde uns nicht im Stich lassen. «
Der Herr im schwarzen Rock wandte den Blick von ihr ab und sah durch das Fenster hinaus zum Hafen, wo die Masten der Schiffe sanft schaukelten. Gegen das Glas gerichtet sagte er: »Schon tausendfach ist so etwas geschehen, und Ihr seid nicht die Letzte, die es ertragen muss. Immer wieder kommt es vor, dass ein Mann seine Frau verlässt, um in das Bett einer anderen zu steigen.«
In Magdalenes Stimme legte sich Schärfe. »Willem nicht. Niemals.«
»Eure Zuversicht in allen Ehren, ich habe nicht das Recht, sie Euch auszureden. Das ist Eure Privatsache. Auch wir müssen Willems Verhalten bewerten, und für uns steht die Sache anders. Wir müssen rational herangehen. Die Handelsgesellschaft hat einen Mitarbeiter verloren.« Der alte Herr im schwarzen Rock schüttelte langsam den Kopf. »Niemand hier hätte Willem ein solches Verhalten zugetraut. Aber wir können es nicht schönreden.«
Vor dem Fenster zum Hafen waberte Nebel und verschleierte den Blick auf die Schiffe. Der große Kamin im Zimmer des obersten Herrn der Gesellschaft war nicht geheizt. Magdalene fröstelte, sie öffnete die Hände und legte die kalten Finger übereinander. Sie saß aufrecht auf ihrem Stuhl. Vor ihr stand unberührt der Wein, den der Mann zu Anfang ihres Besuches angeboten hatte. »Ihr meint, Ihr wollt nicht in eine Suche investieren. Der Auftrag in England ist für Euch nur ein verlorenes Geschäft.«
Der Mann kam näher, nahm die Hände vom Rücken und strich mit seiner Linken das schüttere Haar nach hinten. Er hatte die Perücke abgelegt, dass sie das kurzgeschnittene silberne Haar sehen konnte. Das sollte Vertrauen zeigen, aber Magdalene ließ sich nicht hinters Licht führen. Alle Kundschafter, auch dieser, waren gute Schauspieler.
Zudem kannte sie den Ruf dieses Mannes. Willem selbst hatte ihr gesagt, dass der Anführer der Gesellschaft niemandem vertraute. Der Mann, der ihr erlaubt hatte, ihn Emiel zu nennen, stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch vor ihr ab und beugte sich näher. Der Schatten der Kerze ließ die Falten tief und die Augenringe dunkel scheinen.
»Nicht nur Ihr seid tief getroffen. Es ist für uns alle ein schwerer Vertrauensbruch. Willem ist für mich die größte Enttäuschung, seit ich die Gesellschaft gegründet habe. Vergesst nicht, Willem war unser bester Mann. Die Gesellschaft war sein Leben.«
Magdalene schüttelte den Kopf. »Umso mehr müsste Euch klar sein, dass etwas an dieser Sache nicht stimmen kann.«
Der Mann richtete sich auf.
»Ihr verkennt, Mefrouw, dass Menschen sich verändern können. Sie erleben etwas, und alles erscheint ihnen in neuem Licht.«
»Alles? Nicht nur die Arbeit, für die er mehrfach sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, auch die Frau, um die er lange gekämpft und die er endlich errungen hat?«
»Dass er sowohl Euch als auch mich enttäuscht, bestätigt meine Schlussfolgerungen.«
Magdalenes Mundwinkel bogen sich nach unten. »Enttäuschung ist ein Gefühl, und Gefühle sind gewiss nicht das, was Euer Handeln bestimmt. Ihr seid Geschäftsmann. Ihr rechnet, das entspricht Eurer Aufgabe als Kopf der Gesellschaft.«
Der Mann fuhr von Tisch zurück und ballte die Fäuste. »Nein, das ist nicht alles. Willem war für einige Zeit unser bester Mann. Er war mir«, er räusperte sich, »ans Herz gewachsen. Er hat sich so prächtig entwickelt, dass ich gedacht habe, er würde eines Tages mein Nachfolger. Glaubt mir, wenn ich eine einzige Möglichkeit sähe, würde ich sie nutzen.«
»Ans Herz gewachsen?« Magdalene akzentuierte ihre Worte scharf. »Das glaube ich nicht.«
»Das müsst Ihr auch nicht.«
Sie beugte sich vor. »Es würde bedeuten, dass Ihr ihn als Mensch seht, nicht bloß als den Kundschafter, der er für Euch ist. Und dafür seid Ihr, verzeiht die Offenheit, nicht gerade bekannt.«
»Ich bin überhaupt nicht bekannt. Eine Gesellschaft wie die unsere ist nicht dazu da, ihre Verhältnisse gegen jedermann offenzulegen.«
»Ich bin nicht jedermann. Ich bin seine Frau.«
»Eben deswegen offenbare ich Euch ausnahmsweise mehr als anderen. Ich habe an ihm gehangen.«
»Wenn es wahr wäre, warum macht Ihr Euch dann nicht wenigstens die Mühe, ihm ins Gewissen zu reden?«
Der Mann schwieg eine Weile. Er wandte sich dem Fenster zu. Von hier aus, durch das kleinteilige Glas, sah man einen Ausschnitt des Hafens von Rotterdam. Es herrschte noch auflaufendes Wasser, die Schauerleute beeilten sich, die Schiffe fertig zu beladen, die mit der Flut den Hafen verlassen sollten. Es waren drei große Pinassen, hundert Fuß lang oder mehr, mit hohen schlanken Aufbauten, drei Masten und bauchigen Segeln. Der Handel in Rotterdam blieb trotz der schlechten Zeiten lebendig. Die Stimme des Alten wurde leiser, sie verwischte, die Worte verschwammen ineinander. »Er hat Euch nicht viel aus seinem früheren Leben erzählt, nicht wahr?«
Magdalene wurde noch kälter als ihr ohnehin schon war. »Doch, einiges schon. Vergesst nicht, dass ich mit ihm gemeinsam in Dresden war.«
»Hat er auch erzählt, was er vorher getan hat? Bevor er zu uns in die Gesellschaft gekommen ist?«
Magdalene schluckte. »Ein wenig.«
Der alte Mann drehte sich wieder zu ihr um. »Ihr glaubt, Ihr müsst den Nachrichten aus London misstrauen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, dass er dort tatsächlich mit einer anderen Frau zusammenlebt, dass er Euch verraten, vergessen und verstoßen hat. Ich dagegen habe eine sehr einleuchtende Erklärung, und aus diesem Grund werde ich keinen Finger mehr für ihn krumm machen. Wir glauben meist, die Dinge wären furchtbar kompliziert. In Wirklichkeit sind sie einfach: Willem ist nur in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen. Weiter nichts. Er tut in London wieder das, was er früher schon getan hat. Mein alter Freund van Berge hat gemeint, mir Willems Sündenregister verschweigen zu müssen, aber ich bin nicht umsonst Herr einer Gesellschaft, die mit Wissen handelt. Willem van Ruysdael hat sich in Brandenburg und Sachsen lange Zeit durch die Betten von einer Menge Frauen geschlafen und sein Leben in Müßiggang verbracht, hat vom Geld anderer Leute gelebt und sich den Anstrengungen ehrlicher Arbeit entzogen. Das ist sein wahrer Charakter, zu dem ist er zurückgekehrt. Das Leben in unseren Diensten ist ihm zu mühselig geworden. Das ist, so leid es mir tut, die ganze Wahrheit.«
Magdalene hob das Kinn, um ihm eine heftige Antwort entgegenzuwerfen, aber er zeigte ihr die Handfläche und fuhr fort: »Müht Euch nicht, mir etwas anderes zu erzählen. Ich kenne den Charakter der Menschen durch mein Geschäft viel zu gut. Die meisten von ihnen sind böse und weit entfernt vom wahren Glauben an Gott. Stimmt Ihr mir nicht zu, dass sich daran die Geister scheiden? Gut oder schlecht, gottgefällig oder nicht? Willem ist vor zehn Jahren in Dresden zum Protestanten konvertiert und hat zugegeben, dass es ihm gleich ist, welchem Glauben er angehört. Wie kann solch ein Mensch der Gnade Gottes nahe sein? Wie kann so jemand sich der Pflichten bewusst sein, die die Verantwortung mit sich bringt? Wahren Glauben kann er nicht haben. Und das ist, mit Verlaub, Mevrouw, das Einzige, was ihn noch retten könnte.«
Magdalene senkte den Kopf. Willem in den Betten vieler Frauen? Müßiggang? Sie durchkämmte die Erinnerung an alles, was sie mit ihm erlebt hatte. Sie war noch nicht lange seine Frau. Sie war es nicht einmal richtig, nicht vor dem Gesetz. Alles, was sie mit Willem bisher gehabt hatte, waren einige Wochen, unterbrochen von langen Trennungen und zusammengeschweißt von einer unerschütterlichen Hoffnung. Von ihrer eigenen jedenfalls.
Hatte der alte Mann Recht?
Hatte Willem nie vorgehabt, die Mühsal eines gemeinsamen Lebens länger auf sich zu nehmen? War es ihm nur um den Jagderfolg gegangen, und war sie seine Beute, die ihn, einmal erlegt, nicht mehr interessierte? War der echte Willem ein leichtlebiger, verantwortungsloser Mensch? Warum war er mit ihr noch nie nach Ruysmaar geritten, wo seine Eltern lebten? Warum hatte er ihr noch nie seine Geschwister vorgestellt?
Dieser Emiel tat ihr nicht gut. Noch länger hier zu bleiben, den Mann weiter mit Fragen in Anspruch zu nehmen bedeutete, ihre Zweifel würden wachsen. Magdalene stand auf. Es hatte keinen Zweck, auf die Unterstützung der Gesellschaft zu hoffen. Sie hatten tatsächlich Willem, ihren besten Mann, aufgegeben. Sie würden nicht versuchen, mit ihm zu reden. Die Männer hier waren von harten Erfahrungen gezeichnet, sie ließen sich nicht leicht hinters Licht führen. Wenn sie Willem aufgaben, glaubten sie gute Gründe zu besitzen.
Magdalene grüßte stumm und verließ die Kammer, durchquerte die Vorhalle und trat vor die Tür des unscheinbaren Hauses am Hafen, an dessen Eingang eine Tafel den Anschein eines gewöhnlichen Handelshauses erweckte. Es war eines der kleinen Kontore, von denen es in Rotterdam eine Menge gab. Magdalene schritt die flachen Stufen hinab und zog fröstelnd den Mantel über den Schultern zusammen. Der Nebel lag dünn in den Straßen und verschleierte den Ausblick, wo man sonst über die glitzernde Wasserfläche hinweg das andere Ufer der Neuen Maas erkennen konnte. Der Oktober brachte immer wieder eisige Schauer mit sich, die den Himmel und das Wasser ineinander verschmelzen ließen. Die flachen Wellen der Neuen Maas schwappten grau, das Kreischen der Möwen klang heiser.
Magdalene stand am Pier und schaute über das Wasser, wo sich im dichter werdenden Nebel die Aussicht nach einigen Ellen verlor. Wie gut kannte sie Willem? Sie besaß grenzenloses Vertrauen in ihn, das bis zu diesem Tag noch nie enttäuscht worden war. Alles, was der grauhaarige Herr im Haus der Gesellschaft zu ihr gesagt hatte, konnte auch eine andere Erklärung haben. Aber welche? Gab es einen Grund, warum Willem, ohne die kleinste Nachricht nach Rotterdam zu senden, in London blieb und mit einer anderen Frau zusammenlebte? Oder würde eines Tages jemand zu ihr sagen: Magdalene, du Dummchen, wie konntest du nur glauben, ein Mann wie Willem sei treu?
Wie gut kannte sie ihn also? Ihr Leben als Ehepaar in Rotterdam dauerte gerade vier Wochen, dann musste er schon wieder fort. Sie besaß nichts als die gefälschte Eheurkunde und einen goldenen Ring, den er ihr zusammen mit einem geflüsterten Schwur an Bord des Schiffes auf der Fahrt von Hamburg nach Rotterdam gegeben hatte. Das war, bei Lichte betrachtet, ein äußerst zerbrechliches Konstrukt.