17. APRIL 1672, RESIDENZ IN HALLE, VORMITTAGS ZEHN UHR
»Juhu!«, jauchzte das Mädchen und schlitterte auf Strümpfen über den langen Korridor, vorbei an den ehrwürdigen Häuptern, die ernst aus den Rahmen ihrer Gemälde schauten. Schritte näherten sich. Schnell versteckte sich das Kind.
Madame von Klettwitz echauffierte sich. »Haben Sie schon gehört? Irgend so ein ungestümes Kind soll angeblich die Korridore und
Galerien unsicher machen.« »Wer ist es, dass es Erlaubnis hat, sich hier auszutoben?« Madame von Mohren, zweite Hofdame, gebrauchte heftig ihren Fächer. »Es heißt, des Hofmarschalls jüngste Tochter sei es.« Die von Klettwitz schnaubte: »Was hat sie hier zu suchen? Familien sind dem Marschall untersagt.« »Gewiss, Gnädigste«, wieder die Mohren, »es heißt, ihre Mutter sei leidend, nahe wohl dem Tode. So hat der Vater, mitErlaubnis des Herzogs, die Pflicht übernommen.«
»Nun, hochverehrte Madame, dann sorgen wir dafür, dass ein Kindermädchen mit der Erziehung betraut wird.«
Die Kleine, über die sich die Hofdamen erregten, kauerte hinter einer großen Vase aus dem fernen chinesischen Reich und kicherte in sich hinein. Sie hatte Gefallen daran, durch die langen Galerien zu streifen. Dabei kam ihr oft die Lust, ungezügelt loszulaufen und auf dem glatten Parkettboden zu schlittern wie auf dem Eis, wenn die Saale zugefroren war. Dass es ungehörig war, die Galerien zu betreten, wusste das Mädchen, Christiane Eleonore, eine Geborene von Zeutsch. Tagtäglich bekam sie Vorhaltungen von ihrem Vater, dem Hofmarschall am Hofe des Herzogs von Sachsen-Weißenfels. Doch liebte er seine Tochter abgöttisch und konnte ihr nicht ernsthaft grollen.
Die Hofdamen gingen weiter, sich dabei noch immer lebhaft über dieses ungehörige Kind erregend. Eleonore blieb in ihrem Versteck hocken. Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Sie lauschte.
Jemand kam näher. Schnell huschte sie hinter den Sockel der Hermesstatue. Wer konnte das sein? Doch schon erkannte sie den Hauslehrer Gutemuth Specht. Oft hatte sie ihn schon gesehen, wie er, hager und steifbeinig, über den Hof gekommen war. Er schien nervös zu sein. Zupfte an seinem schwarzen Rock herum, richtete die gelblich glänzende Perücke, strich das Jabot glatt, blieb kurz
vor einer Tür stehen, räusperte sich und klopfte. Ein Page öffnete und ließ ihn eintreten. Dann war es still.
Christiane schlüpfte aus ihrem Versteck, lehnte sich in eine Fensternische der Tür gegenüber und lauschte, ob nicht ein Ton, ein gesprochenes Wort zu hören sei. Sie hielt die Luft an bei dem Gedanken, dass hinter dieser Tür so gewaltige Dinge wie Schreiben und Rechnen vor sich gingen. Wie mag das sein, einen Federkiel in der Hand zu halten und Zeichen auf Papier zu schreiben, die man
am Ende laut vorsprechen kann?
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und hielt ihr Ohr an das polierte Holz. Es war nichts zu hören. Sind sie gar nicht drinnen? Vor Anspannung biss sie sich auf die Unterlippe. Versuchte durch das Schlüsselloch zu spähen, doch dafür war sie zu klein. Wie sollte sie erfahren, was in diesem Raum geschah? Langsam drückte sie die Klinke herunter und steckte den Kopf durch den Türspalt. Den Hauslehrer Specht sah sie vor einem Schreibpult, hinter dem ein dunkelhaariges Mädchen stand, hin und her laufen. In der Ecke am
Fenster saß die Gouvernante Susanna, die offenbar schlief, denn ihr Kinn lag auf ihrem üppigen Busen. Das Mädchen nickte zu den Ausführungen des Lehrers, unterdrückte ein Gähnen, drehte den Kopf nach der Tür, sah Eleonore und lächelte ihr zu. Specht drehte sich um und entdeckte die Lauscherin. Er wedelte mit beiden Händen, als wollte er Hühner verscheuchen. Das Mädchen, Angelika, kicherte. Das weckte Susanna aus ihrem Dusel.
Sofort schrie sie los und echauffierte sich: »Hinaus, hinaus! Was erlaubst du dir? Sofort hinaus!«
Eleonore zog ihren Kopf zurück und drückte die Tür zu. Drinnen hörte sie Angelika laut lachen. Dann war es wieder still. Eine Weile lauschte sie noch. Schließlich jubelte sie: »Und zurück! Juhu!« Die Schlitterpartie endete abrupt in den Röcken der ersten Hofdame von
Klettwitz. »Was treibst du Kind hier? Willst du mich zu Fall bringen? Wer bist du?« Schuldbewusst senkte die Kleine den Blick, knickste artig aber schwieg. »Willst du mir nicht antworten? Von gutem Benehmen hältst du nicht viel. Ich werde dich dem Hofmarschall melden. Es ist ungehörig, dass ein Kind die Korridore unsicher macht.« Christiane Eleonore knickste noch einmal und murmelte ein undeutliches »Pardon«. Vor dem Hofmarschall, ihrem Vater, hatte sie Respekt. Streng und unduldsam war er. Hatte wenig Zeit, sich um seine Tochter zu kümmern. Die Gouvernante, eine ältliche, phlegmatische Person, versagte bei der Erziehung. Wie oft gab es Anlass zur Schelte und Eleonore versprach, sich zu fügen. Wenn sich doch niemand um sie kümmerte, suchte sie sich selbst ihre Vergnügungen. Alles das konnte Madame von Klettwitz nicht wissen. Sie schaute auf das Mädchen und überlegte, was wohl angebrachter wäre. Das ungehörige Benehmen dem Hofmarschall zu melden oder gleich der Herzogin persönlich. Sie entschied sich für Letzteres. Packte das Kind am Arm und zog
es hinter sich her in die Gemächer der Herzogin Johanna Walburga, Gemahlin des Herzogs von Sachsen-Weißenfels. Eleonore versuchte nicht, sich loszureißen. Demütig ließ sie sich mitziehen. Ängstlich bei dem Gedanken, ihr Vater könne von ihren Missetaten erfahren.
Unwillig blickte die Herzogin auf, als ihre erste Hofdame, ein Kind hinter sich herzerrend, unangemeldet ihr Gemach betrat. Gerade hatte
sie einen Gedanken auf das Papier gebracht. Der Federkiel war noch feucht von Tinte. »Was gibt es, Klettwitz? Warum so echauffiert?« Die Dame versank in einem Knicks. Eleonore blieb aufrecht stehen und wartete. Was würde passieren? Ihre Augen huschten lebhaft über die Spiegel und Figuren entlang der Wände und blieben am zierlichen Schreibtisch der Herzogin hängen. Wie schön der aussah. Hinter einem solchen Tisch würde sie auch gerne sitzen und mit einem Federkiel schöne Verse schreiben. Nur wie schreibt man? Sie wusste es nicht.
»Nun, mein Kind, was treibst du in den Galerien, dass sich Madame von Klettwitz derart erregen muss?«, wandte sich die Herzogin an Eleonore. »Sie ist auf Strümpfen geschlittert und hätte mich beinahe umgeworfen«, kam es vorwurfsvoll von der Hofdame.
»Still, sie soll es mir selbst sagen. Also, Kind?«
Leonore heftete den Blick fest auf den glänzenden Boden zu ihren Füßen und flüsterte: »Ich bin geschlittert.« Die Herzogin bemühte sich, nicht in helles Gelächter auszubrechen. »Geschlittert. Warum?«, fragte sie, sich dabei auf die Lippen beißend. Eleonore knetete die Hände vor der Schürze und sagte mit fester Stimme: »Ich hatte Langeweile.«
Einen Moment war es still im Raum. Die Hofdame hielt sich den Fächer vors Gesicht. Der Herzogin gluckste wieder ein Lachen hoch. Zurückgelehnt im rotsamtenen Stuhl betrachtete sie die Kleine eine Weile, um sie dann zu fragen: »Wie alt bist du?«
Jetzt wurde es schwierig für Eleonore. Mit den Fingern der linken Hand zählte sie. Vor Anstrengung fuhr sie mit der Zungenspitze über die Lippen. Endlich hatte sie es. »Sechs Lenze bin ich.«
»Sechs Lenze? Kannst du lesen, rechnen, schreiben? Wohl kaum. Und zu wem gehörst du?«
Aus Eleonores Gesicht wich vor Schreck erst die Farbe und sie wurde bleich wie ein Leinentuch, dann färbte es sich rot bis hinunter unter
den Hals. Sie stotterte: »Mein Vater … ich bin Christiane Eleonore von Zeutsch.«
»Mon Dieu!«, schrie die Klettwitz auf und suchte nach einem Halt, weil sie fürchtete zu fallen. »Es ist tatsächlich des Hofmarschalls Tochter?«
Das überraschte auch die Herzogin. »Hast du keine Gouvernante? Sie sollte auf dich achtgeben.«
Eleonore vergaß alle Vorsicht: »Mina, ach, die Mina ist doch immer müde und mag nicht laufen. Wo sie sich hinsetzt, schläft sie ein. Was soll ich denn tun?« »So, die Mina.« Mit betont strengem Gesicht gab die edle Frau Eleonore einen Wink: »Geh jetzt. Ich werde mir etwas überlegen.«
Das Mädchen knickste artig, ging rückwärts bis zur großen schweren Tür, beugte noch einmal die Knie, drückte die Tür auf, schlüpfte hindurch und ließ sie ins Schloss fallen. Draußen blieb sie kurz stehen, blies die Luft aus beiden Backen und rannte los. Das letzte Stück bis zu den steinernen Löwen schlitterte sie. Holte ihre Schuhe zwischen den Pranken des Untiers hervor und sauste wie ein Wirbelwind zur Behausung des Hofmarschalls Georg Volrath von Zeutsch.