Magdalene Rehnikel strich sich eine kastanienbraune Locke aus der Stirn. Immer wieder wollte dieses widerspenstige Ding aus der Haube rutschen! Sie seufzte und sortierte die Schalen auf ihrem Tisch neu: Canariwurz, Spanische Kreide, Gummi arabica, die Päckchen mit der Seife. Waren das nicht viel zu wenige Spezereien? Die Gewürze hatte sie nicht mitnehmen können, die brauchten eine Feinwaage. Vielleicht sahen die Leute nur nicht richtig, was sie anzubieten hatte? Hätte sie den Tisch vielleicht ein Stück weiter vorn aufbauen sollen? Aber der Marktmeister hatte sie hierher, zu den Gemüsehändlern, geschickt. Sie gehöre nicht zu den Krämern mit irdenen Waren, auch nicht zu den Wollkrämern und den Lederhändlern. Und überhaupt, was sie sich einbilde – Spezereien auf einem Marktplatz! Wo habe man so etwas schon gehört!
Magdalene achtete nicht auf sein Schimpfen und tat, was sie sich ausgedacht hatte. Es musste doch zu schaffen sein, dass ein bisschen Geld in die Kasse kam!
Der Himmel versprach einen sonnigen Tag, das Blau vertiefte sich von Stunde zu Stunde. Dieser Juni im Jahr des Herrn 1700 war ein freundlicher, er ließ das Getreide auf den Feldern mit Regen und Sonne im Wechsel gut wachsen, und für den Markttag hatte er angenehme Wärme mitgebracht. Seit dem morgendlichen Ruf der Betglocke stand Magdalene hier, nachdem der missmutige Jakob ihr die Warentaschen und den Tisch hinterhergetragen hatte und wieder gegangen war. Ihr Geselle hielt ebenso wenig von ihrem Plan wie der alte Marktmeister. Natürlich hatte noch nie jemand auf dem Halleschen Marktplatz Spezereien verkauft. Warum auch? Es gab ja den Laden, das Geschäft ihres seligen Georg. Dorthin gingen die Leute, wenn sie etwas brauchten, was die Apotheken nicht boten und die Mode oder das Geschäft es dennoch verlangte. Nur, dass immer weniger Leute kamen, seit Georg nicht mehr lebte.
Sie atmete auf, als eine Bäuerin aus Seeben auf ihren Stand zuschlenderte. Es war eine runzlige Alte, die nicht nach viel Geld aussah. Aber man wusste nie, manchmal wollten gerade die Alten sich etwas leisten und legten dafür ihre Ersparnisse auf den Tisch.
„Rehnikelin“, krächzte die, „habt Ihr Löcher im Dach, dass Ihr neuerdings nicht mehr in Eurem Laden verkaufen könnt?“
Magdalene lächelte. „Aber nicht doch! So ein Laden ist wunderbar, man hat ein Dach über dem Kopf, wenn es regnet und die Waren liegen trocken und sicher. Bloß ist es ein bisschen einsam da. Ich wollte gern dort sein, wo etwas los ist.“
Die Alte entblößte ihren einzigen Schneidezahn. „Kommt wohl keiner mehr zu Euch?“
Ihr Erröten verbarg Magdalene, indem sie die Kopf senkte. „Doch, doch! Aber als Händlerin muss ich mich zeigen, damit die Leute sehen, was für schöne Sachen ich zu verkaufen habe. Sehr doch hier: die Indische Seife! Jeder in Halle will sie haben. Sie kann alles viel weißer waschen als ihr je gesehen habt.“
„Jeder? Ich sehe keinen. Und meine Seife mach ich selbst. Das Weiße ist was für Stadtleute, nicht für solche wie uns. Wie kommt es denn, dass Ihr Zeit habt, Euch auf den Markt zu stellen? Man hört, Ihr könnt Euch keine Magd mehr leisten. Wer macht Euch den Haushalt, und wer kümmert sich um die Kinder?“
„Macht Euch keine Sorgen um mich, das schaffe ich schon.“
Die Alte lächelte gütig, als ob sie Mitleid hätte. „Wollt auch nichts gesagt haben. Steht mir ja nicht zu, einer Bürgerin zu sagen, wie sie ihre Pflichten erfüllt. Wünsch Euch einen schönen Tag, Rehnikelin!“
Magdalene biss sich auf die Lippen, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben. Das boshafte Weib würde ihr ja doch nichts abkaufen, es nützte nichts, ihr einen guten Preis für die Seife hinterherzurufen.
Neben ihr an den Ständen der Bauern aus den Vororten wurde das Gedränge größer. Es ging auf Mittag zu, die Mägde kauften Zwiebeln, Kohl, Rapünzchen. „Indische Seife!“, rief Magdalene laut. „Hier gibt es die beste Seife vom Hof des Kurfürsten! Indische Seife!“
Eine Seilersfrau trat näher. „Ein Stück von Eurer Seife, was kostet das?“
„Einen Groschen, gute Frau.“
„Einen Groschen! Da mache ich mir doch lieber meine Seife selbst!“
„Es ist eine ganz besondere Seife. Ihr werdet staunen, wie weiß Eure Wäsche werden kann!“ Magdalene hob ihre weiße Schürze an, die sie extra für den Markt aus der Truhe geholt hatte.
„Aber einen Groschen, nein, das ist zu viel.“
„Acht Pfennige, aber nur für Euch.“
„Vier.“
„Um Gottes Willen, wollt Ihr mich an den Bettelstab bringen? Sieben.“
„Vier, oder ich gehe wieder. Es herrscht ja wohl kein Andrang, dass Eure Seife so etwas Besonderes sein kann.“
„O doch, die Leute haben sie nur alle schon gekauft.“
„Vier.“
„Sechs, aber weiter herunter kann ich nicht gehen.“
„Vier.“
„Gut. Fünf, das ist mein letztes Wort.“
Die Seilerin zog ihre Börse hervor und zählte ihr fünf Pfennige in die Hand, nahm das Päckchen Seife entgegen und verschwand grußlos. Fünf Pfennige für etwas, das schon allein an Zutaten und Verpackung vier kostete. Jakob hatte ihr eingeschärft, die Seife niemals unter acht Pfennige zu verkaufen. Aber es war ein Anfang. So war es auf den Märkten immer: Zuerst musste ein gewisser Andrang entstehen, dann kamen noch mehr Menschen.
Aber Andrang gab es nur woanders. Manche Leute schlenderten vorüber, warfen neugierige Blicke auf ihre Auslagen, niemand blieb stehen. Magdalenes Rufe, am Morgen noch voller Zuversicht, verklangen am Nachmittag müde. Der Himmel zog sich zu, Wolken bedeckten ihn, es sah aus, als könnte es noch regnen. Bei Regen sofort alles einpacken, hatte ihr Jakob eingeschärft. Spezereien vertragen keine Feuchtigkeit, die Wurzeln ziehen Wasser und verderben, das Pulver klumpt und die Seife löst sich auf.
Magdalene schaute nach oben. Noch war Zeit. Vielleicht kamen jetzt noch ein paar Leute und kauften. Aber gerade das Gegenteil geschah, der Marktplatz leerte sich, die abendliche Betglocke bimmelte, nicht einmal mehr Neugierige näherten sich. Die Bäuerin am Nebentisch räumte ihre Sachen zusammen. „Nehmt’s nicht so schwer, Rehnikelin“, brummte sie. „Manchen Tag ist das eben so.“
Magdalene dankte und schluckte. Jakob hatte es vorhergesagt, aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Spezereien passen nicht auf einen Marktplatz, sie brauchen Geduld und Ruhe und vor allem ein Dach. Warum musste dieser alte Rechthaber auch immer vorhersagen, was geschah! Sie sah zu, wie die Bäuerinnen einpackten, aber sie konnte das noch nicht. Sie würde als letzte gehen, um sich nicht die kleinste Möglichkeit entgehen zu lassen.
Von fern sah sie eine füllige kleine Frau näherkommen, deren dunkles Habit die Jüdin verriet. Esther? War das Esther Wolf?
Esther hielt auf sie zu und lächelte. Ihre buschigen, dunklen Brauen hüpften. In ihrem mit jiddischen Klang versetzten Sprache sagte sie: „Ich grüße Euch, Witwe Rehnikel. Wie geht es Euch, habt Ihr gut verkauft?“
Magdalene schüttelte den Kopf. Frau Esther musste sie nichts vormachen. „Fünf Pfennige. Das war alles. Für einen ganzen Tag von morgens an.“
Esther schüttelte den Kopf, ihr Doppelkinn wackelte. „Fünf Pfennige! Wie furchtbar! Das tut mir leid. Aber für Spezereien ist ein Marktplatz nicht das Richtige. Ihr erweckt sonst den Eindruck des Gewöhnlichen, dabei sind Spezereien doch etwas Besonderes.“ Esthers Sprache merkte man an, dass sie kaum einmal Deutsch redete. Sonst sprachen bei den Juden die Frauen und Mädchen untereinander in ihrer eigenen Sprache, und Magdalene war froh, dass Esther sich die Erlaubnis zum Deutschlernen von ihrem Mann ertrotzt hatte. Kleinlaut antwortete sie: „Ja, genau das hat mein Geselle auch gesagt. Aber was soll ich machen? Die Leute kommen nicht in den Laden.“
„Nun …“, Esther zögerte, „es könnte sein, Ihnen fehlt das Vertrauen, seit Euer Mann nicht mehr unter uns ist.“
„Aber ich … mir gehört jetzt der Spezereienhandel. Ich führe ihn weiter.“
Esther blieb ernst, ihr Doppelkinn stand still. „Ihr seid nicht Mitglied der Innung. Mein Mann sagt, dass sie sich dort beinahe überworfen haben nach Eurem Antrag.“
„Ich habe den Bescheid mit der Ablehnung bekommen, aber ich werde widersprechen. Heute, spätestens morgen schreibe ich den Brief an die Innung. Mein Onkel ist Jurist, der hat mir versichert, dass dies aufschiebende Wirkung hat. Solange sie darauf nicht antworten, darf ich den Handel weiterführen.“
„Sie werden wieder ablehnen. Dann gibt es keinen Aufschub mehr.“
„Nein! Das dürfen sie nicht! Wovon soll ich sonst leben? Und meine Kinder?“
„Ihr vermietet doch Kammern. Das bringt sicher ein paar Taler.“
„Ja, zwei Studenten habe ich im Logis.“ Magdalene wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Davon leben wir jetzt. Der Handel bringt kaum noch etwas ein.“
„Na also. Ihr werdet immer einen Weg finden, so habe ich Euch kennen gelernt.“
Magdalene atmete tief ein. „Meine Situation hat sich also schon bis zu Euch herumgesprochen?“
Die Jüdin legte ihr die Hand auf den Arm. „Das ist doch kein Wunder. Halle ist klein und mein Mann muss immer wissen, mit wem er sich einlässt.“
„Aber er kann es nicht verstehen, und auch die Innungsmeister nicht. Es sind Männer. Wäre ich auch einer, hätten sie mich längst in die Innung aufgenommen. All das Elend nur, weil ich eine Frau bin!“
„Grämt Euch nicht. Auch Frauen können erfolgreich handeln. Meine Tante Glikl zum Beispiel ist eine großartige Händlerin. Sie hat es geschafft.“
Magdalene sah sich um. Ringsum sie herum waren jetzt alle Tische fort, kaum noch Menschen spazierten über den Markt. Dunkle Wolken hingen über der Marktkirche.
„Würdet Ihr mich begleiten? In meiner Küche kann ich Euch mehr erzählen.“
Esthers Blick wanderte unruhig. „Ich weiß nicht … aber andererseits … man hat uns sowieso zusammen gesehen. Ihr wisst doch, bei uns hat man es nicht gern, wenn wir mit den Einheimischen Umgang pflegen.“
„Ich denke, Euer Mann muss im Bilde sein, was in der Stadt passiert?“ Magdalene zwinkerte Esther zu.