Niemand weiß, wer die junge Frau auf dem Gemälde ist. Keiner, der die Gelegenheit bekommt, es im Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig in seinem goldenen Rahmen zu betrachten, weiß mehr als er mit eigenen Augen sieht: eine teuer gekleidete junge Frau, eine Schönheit, ihr Blick eine Mischung aus Neugier und Überheblichkeit, auf dem Bild festgehalten in einem Alter, in dem keine böse Erfahrung auch nur ein Stirnrunzeln hervorbringt.
Dass kein Name überliefert ist, kein Schild und keine Beschriftung auf Details verweist, hat seinen Grund in der Mission eines Jesuiten, der im Jahr 1714 von Rom aus nach Polen aufbrach. Der Name der jungen Frau ist mit zorniger Hand von der Rückseite des Rahmens gekratzt worden. Die Art, wie die Furchen von rechts nach links in die Leisten gegraben sind, ihre Tiefe und ihr wilder Verlauf beweisen, dass derjenige, der es tat, mit diesem Ausbruch versuchte, mehr als nur einen Schriftzug auszulöschen.
Der Maler des Gemäldes war Johann Kupezky, ein zu seiner Zeit, dem beginnenden 18. Jahrhundert, beliebten und begehrten Porträtmaler. Was Kupezky von anderen Malern unterschied, war, dass er den Charakter und die Besonderheiten eines Menschen vollständig zu erfassen vermochte. In seinen Bildnissen liegt so viel Tiefe und Genauigkeit, dass man auch dreihundert Jahre später glaubt, den abgebildeten Menschen in seiner Gänze begreifen zu können.
Die junge Frau auf dem Bild trägt ein dunkelrotes Kleid mit einem Kragen aus Otterpelz. Goldene Schnüre am Oberteil und ein mit Goldfäden durchwirktes Seidenband in ihrem Haar zeigen, zu welchen hochgestellten Kreisen sie gehörte. Ihre Schönheit ist von einer feinen, beinahe durchsichtigen Art, ihr Blick verfolgt den Betrachter, ganz gleich, ob er die Dame von der Seite oder von vorn ansieht.
Das »Bildnis einer jungen Polin« wurde im Sommer 1714 in Sandomir gemalt, einer einstmals bedeutenden polnischen Stadt an der Weichsel mit einer Burg, deren Besitzer der Vater jener schönen Frau war. Kupezky hielt sich sechs Wochen in Sandomir auf; sein Modell stand ihm kaum die Hälfte der Zeit zur Verfügung, weil das Stillsitzen nicht zu den herausragenden Fähigkeiten der jungen Polin zählte. Zu der Zeit, als das Bild gemalt wurde, war Katharina Tarnowska dreiundzwanzig Jahre alt. Der Auftraggeber des Bildnisses war ihr Verlobter, Graf Kasimir Orlowski, ein Führer der kurz darauf beginnenden Aufstände gegen August den Starken, den sächsischen König von Polen-Litauen.
Erstaunlicherweise findet sich außer der Erwähnung in einigen Briefen Orlowskis an den Maler kein weiterer Beweis für die Existenz der jungen Frau. Ein Familienstammbuch der Tarnowskis aus dem frühen 18. Jahrhundert verzeichnet mehrere Verwandte, die auf der Burg geboren sind, aber keine Katharina. In Orlowskis Briefen sind begeisterte Schilderungen der Schönheit, Klugheit und Anmut seiner Braut zu lesen. Orlowski beschwört Kupezky, nach Sandomir zu reisen, weil das zu malende Bildnis auch den Maler unsterblich machen werde. Der Graf zählt die Vorzüge Katharinas auf und findet beinahe kein Ende, und einmal entschlüpft ihm, vermutlich ohne Absicht, ihr Kosename: Kasienka.
Zwei weitere Indizien sprechen für die Wahrheit der nachfolgenden Geschichte: die Rechnung eines Weinhändlers aus Koblenz, der im Jahr 1714 eine Wagenladung besten Bacharacher Rheinweins nach Sandomir lieferte, auf deren Rückseite jemand mit ungelenker Hand »Kasienka« gekritzelt hat. Das zweite Indiz fand sich bis zum zweiten Weltkrieg in der romanischen Sankt-Jakobs-Kirche von Sandomir. Unter einer Figur des Märtyrers Stefan in der Nische hinter dem Nebeneingang war ein Schild angebracht. Es trug eine winzige deutsche Inschrift: »gestiftet von Konrad Enderlein und seiner Frau, im Andenken an Katharina Tarnowska«.
Jene junge Frau hat verdient, dass ihre außergewöhnliche Geschichte so geschildert wird, wie sie über Generationen in den Erzählungen der Einwohner von Sandomir lebendig geblieben ist.