Gedankenverloren stand Molly am Strand und betrachtete die blauen Wellen vor sich. Es war ein sonniger Tag und für englische Verhältnisse geradezu warm. Das Meer rauschte leise vor sich hin. Es war kein wirklich schöner Strand, er bestand nicht aus feinem, weichem Sand, sondern aus Steinen in allen erdenklichen Größen, die meisten rund und glattgespült. Molly liebte es, hier zu stehen und in die Ferne zu schauen. An klaren Tagen konnte man Wales am Horizont sehen. Das Meer gab dem Mädchen ein Gefühl von Freiheit. Sie tauchte ihren nackten Fuß ins kalte Nass und lächelte. Eine Möwe drehte über ihr ihre Kreise.
Ein unbekanntes Gefühl machte sich in Molly breit. Sie wusste nicht, woher es kam, aber es war zweifelsohne da. Und es hatte mit dem Meer zu tun. Die Bewohner ihres kleinen Dorfes pflegten zu sagen: Wenn Ärger kommt, kommt er meistens mit den Gezeiten. Fremde wurden als Eindringlinge gesehen, und die Einheimischen mieden sie. Sie machten ihre Geschäfte mit Händlern, manchmal sogar mit Schmugglern, die die felsige Küste Devons gerne wegen der vielen Höhlen und Verstecke nutzten, doch sie waren jedes Mal froh, wenn die Fremden wieder fort waren.
Ein Schnauben hinter ihr erinnerte Molly daran, dass es Zeit wurde, nach Hause zu gehen. Die meisten Bewohner Clovellys hatten einen eigenen Esel, der für sie Lasten von dem kleinen Hafen am Strand die steile Pflasterstraße des Dorfes hinauf- trug. Molly liebte Dandelion, der als Fohlen zu ihren Eltern gekommen war. Mittlerweile war der Esel alt. Sein Fell war stumpf, und bei einem Unfall war ihm das Ohr abgeknickt worden. Doch hinter dieser Erscheinung steckte ein vertrauensvolles, sanftes Tier mit unerschütterlichem Wesen.
Molly drehte sich um und musste feststellen, dass sie Gesellschaft hatte.
„Hallo John.“
„Was tust du alleine hier draußen?“, fragte der Junge und kam zu ihr herüber. Mit neunzehn war er zwei Jahre älter als Molly und gut einen Kopf größer.
„Ich betrachte das Meer.“
„Es ist gefährlich, die Flut kommt bald“, stellte John fest. Er trat näher und lächelte. „Soll ich dich nach Hause begleiten?“
Molly seufzte. Sie wollte noch nicht heim, doch sie wusste, dass ihr Vater und ihr Bruder warteten. „Das ist sehr nett von dir.“
Seite an Seite machten die beiden sich an den anstrengenden Weg die steile Straße hinauf. Dandelion trottete brav neben ihnen her.
„Was fasziniert dich so an dem Meer?“, wollte John auf einmal wissen.
Molly zuckte die Schultern. „Es gibt mir ein Gefühl von Freiheit.“
„Freiheit?“, fragte ihr Freund.
„Hast du dich nie gefragt, was dort am Horizont ist?“
John runzelte die Stirn. „Nein.“
Er war wie die meisten Dorfbewohner. Er lebte in einer Gemeinschaft, in die er hinein geboren worden war. Es war ihm egal, was sich außerhalb dieser Gemeinschaft abspielte. Molly fragte sich manchmal, warum sie den Drang verspürte, sich zu überlegen, was in der Ferne wartete. Sie hatte keine Erinnerung an ihre Mutter, doch man hatte ihr gesagt, dass sie eine abenteuerlustige Frau gewesen war. Vielleicht war Molly ihr ja ähnlich.
„Sicherheit“, riss John sie aus ihren Gedanken.
„Was?“
„Dieses Dorf bietet dir Sicherheit. Du kennst jeden, dir kann hier nichts passieren. Fremde bringen nichts als Ärger.“
Das Mädchen schwieg. Was hätte sie darauf auch antworten können?