Calais, Frankreich 15. August 2016
Es war ein furchtbar schwüler Morgen. Ich erwachte von den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen und mich an der Nasenspitze kitzelten. Verschlafen schlug ich die Augen auf und blickte auf meinen Wecker. Sechs Uhr. Stöhnend ließ ich mich wieder in die Kissen fallen. Bis meine Eltern und meine Schwester aufstanden, würde es noch ein paar Stunden dauern. Sie waren Langschläfer und störten sich nicht an den hohen Temperaturen. Im Gegenteil – sie genossen sie. Zu Hause war es ihnen stets zu kühl. Ich hingegen hatte nicht das geringste Problem damit, dass es in England oft regnete und kühl blieb.
Ich wälzte mich hin und her, in der Hoffnung, noch einmal einzuschlafen, doch ich schaffte es nicht. Schließlich gab ich es auf. Seufzend streckte ich die Füße über die Bettkante, trat zu dem geöffneten Fenster und spähte hinaus auf den Hafen von Calais. Unsere Pension war in der Tudor-Zeit erbaut worden und unsere Wirtin hatte uns schwärmerisch erzählt, dass die vier Marys, die Jugendfreundinnen und später Hofdamen von Königin Mary Stuart von Schottland, ihre letzte Nacht in Frankreich in diesem Gebäude verbracht hatten, ehe sie mit ihrer Königin nach Schottland zurückkehrten. Ich stellte mir vor, wie sie vor über vierhundertfünfzig Jahren an genau dieser Stelle gestanden hatten, um das Treiben im Hafen zu beobachten.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Es klang wie ein Pfeifen. Bestimmt war es bloß der Wind, der durch die Mauern zog. Merkwürdig, denn ich stand am Fenster und spürte nichts. Auch die Äste der Bäume standen still, als steckte nicht ein Hauch Leben in ihnen. Das Pfeifen hielt an. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber es war, als hörte ich Stimmen darin. Ein Lachen, ein Stöhnen, ein Schluchzen und ein Wispern. Und dann passierte etwas Seltsames. Es war, als wäre ich von einer unsichtbaren Macht gebannt. Ich drehte mich um, schritt auf die Tür zu. Langsam drückte ich die Klinke hinunter. Der Flur war verlassen. Aus dem Zimmer gegenüber drang das leise Schnarchen meiner Schwester. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, ohne zu wissen warum, und folgte den jetzt deutlich zu hörenden Stimmen. Vor einem uralten Wandteppich machte ich schließlich halt. Das Lachen war jetzt so laut, als stünde die Person direkt vor mir, ebenso wie das Schluchzen, das Stöhnen und das Wispern. Aber da war niemand. Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt ergriff ich den schweren Stoff des Gobelins und schob ihn zur Seite. Dahinter kam eine Reihe Bruchsteine zum Vorschein, als sei dieses Stück Wand bei sämtlichen Renovierungsarbeiten vergessen worden. Ich fuhr mit den Fingern darüber. Eine dicke Schicht Staub lag darauf. Darunter vermeinte ich ein Muster zu erkennen. Vorsichtig wischte ich mit den Fingern darüber. Mir offenbarten sich zahlreiche ineinander verschlungene Linien. Ein keltischer Knoten, dachte ich. Er war mit größter Sorgfalt in den Stein geritzt worden. Jetzt erst bemerkte ich die Stille. Die Stimmen waren verschwunden. Vielleicht hatte ich mir nur alles eingebildet. Lag es an der Wärme, die ich nicht vertrug? Ich wollte mich gerade umdrehen und den Wandteppich wieder vor den Stein schieben, da begannen die Muster auf einmal zu leuchten. Die feinen Linien erstrahlten in einem leuchtenden Rot. Langsam bewegte sich meine Hand darauf zu. Ich legte die Fingerspitzen auf die obersten Ränder. Dann lag meine ganze Hand auf dem Ornament. Mit einem Mal hörte ich wieder eine Stimme, nur eine einzige dieses Mal.
„Mary!“ Woher kannte sie meinen Namen?
„Mary!“ Die Stimme klang vertraut, obgleich ich nicht wusste, wo ich sie schon einmal gehört hatte. Alles um mich herum begann zu verschwimmen.
„Mary!“
Ohne mein Zutun erklang plötzlich meine eigene Stimme, fremd und weit entfernt, aber ich wusste, dass es meine war.
„Mary!“
Und dann tauchte für den Bruchteil einer Sekunde ein Bild vor mir auf. Es war ein Gesicht, mein Gesicht. Aber das Mädchen war nicht ich. Das Mädchen, das mir gegenüberstand, trug ein altmodisches Kleid. Wie man es in der Zeit der Tudors getragen hatte.
„Mary!“ Diesmal schrien wir gleichzeitig. Und dann fiel ich in eine tiefe, schwarze Leere.