Heute Abend, wusste Claus, würde er ein Verbrecher sein. Die Vorstellung trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn, machte ihn wahnsinnig vor Scham und Abscheu vor sich selbst. Sein ganzes Leben lang hatte er fest daran geglaubt, ein rechtschaffener und ehrlicher Mensch zu sein. Nein, mehr noch: Er hatte sich angemaßt, er habe sogar ein größeres Gespür für Gerechtigkeit als die meisten der anderen Menschen. Doch jetzt hatte er Hunger, sein Körper war mager, die Kleidung voller Löcher; und im Wald gab es Elsbeth mit ihrem Säugling, der fieberte und hustete. Aber war das alles Grund genug, um zu stehlen?
Claus fröstelte. Beim Überqueren des Flusses war Wasser über das Floß geschwappt und hatte seine löchrigen Stiefel durchweicht. Claus´ Zehen fühlten sich eisig an. Mit zittrigen Fingern zog er den dünnen Wollmantel enger um sich und hielt ihn unter dem Kinn zusammen, in der verzweifelten Hoffnung, die letzte verbliebene Wärme so lange wie möglich in seinem Körper zu bewahren.
Das Dorf Weyer lag nur noch wenige Schritte von Claus entfernt. Windschiefe Hütten säumten den Weg, einige mit Lehm verputzt, andere gänzlich aus grobem Holz gezimmert. Dazwischen tummelten sich Menschen, mehr als an den übrigen Tagen; sie alle strömten zum ersten Markt des Jahres, der nur stattfinden konnte, weil der Schnee in der vergangenen Woche beinahe vollständig geschmolzen war.
Claus zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, darauf bedacht, unerkannt zu bleiben – auch wenn er nicht glaubte, dass ihn hier jemand erkennen würde. Er war nur einmal zuvor in Weyer gewesen, und das lag schon einige Jahre zurück.
Damals hatte man ihn gegen seinen Willen in diese Gegend gebracht. Weyer war nur ein Ort der Durchreise für ihn gewesen, bevor man ihn in das wenige Meilen entfernte Dorf Raming brachte. Dreieinhalb Jahre hatte Claus in Raming gelebt, bevor er letzten Mai von dort floh, weil er es keinen Tag länger unter dem Dach des Bauern aushielt, dessen Knecht er war. Heimlich bei Nacht lief er von dem Meierhof davon, gemeinsam mit einem anderen Knecht und einer Magd. Er wollte ein neues Leben in der Stadt Waidhofen beginnen, war bereit, jede erdenkliche Arbeit anzunehmen, egal wie wenig Lohn man ihm dafür zahlte, Hauptsache weg von Raming, weg von Bauer Rudwin und seinen unerträglichen Launen, den Schlägen und Demütigungen und seinem täglichen Vorführen, welche Macht er über ihn besaß. Claus sowie Kilian und Elsbeth, die ihn begleitet hatten, fanden zunächst Unterschlupf in einer Hütte in der Waldwildnis am anderen Ufer der Enns. Hier wollten sie den Winter abwarten, um dann im Mai nach Waidhofen zu ziehen. Für ein Jahr und einen Tag musste es ein Knecht schaffen, von seinem alten Herrn nicht wieder eingefangen zu werden, dann galt er als frei. Diesen Mai wäre es so weit und der Wald bot ihnen bis dahin Schutz, um nicht entdeckt zu werden. Hier gab es Bäche mit Forellen, sauberes Wasser, eine verlassene Hütte und Wild, das man, verborgen vor den Blicken des Adels, schießen konnte. Ein guter Plan, um den Winter zu überstehen, hatten sich Claus, Kilian und Elsbeth gedacht. Doch das Jagen und Fischen stellte sich als schwieriger heraus als anfänglich angenommen. Jetzt waren sie nur noch Haut und Knochen. Und das Kind, das Elsbeth im letzten Jahr zur Welt gebracht hatte, war schon mehr tot als lebendig.
Sie mussten stehlen. Es gab keine andere Möglichkeit. Unendlich viele Male hatten sie darüber gesprochen, was sie stattdessen tun könnten. Jetzt schon nach Waidhofen ziehen und das Risiko eingehen, noch vor Ablauf des ersten Jahres entdeckt und wieder zurück nach Raming gebracht zu werden? Außerdem gab es in der kalten Jahreszeit nirgends Arbeit. Baustellen und Bauernhöfe entließen meist vor dem Winter ihre Helfer, weil es nur für wenige etwas zu tun gab.