Der Baumeister von Vrijenburg
Zuerst war es nur ein kleiner Riss.
Wouter sah ihn sofort. Solche Dinge fielen ihm in den Blick, er war schließlich Makler und musste, wenn er Häuser verkaufte, jeden Mangel erkennen – solche, die er den Käufern sagte, und solche, die er für sich behielt.
Der Riss war fein wie das Haar seines neugeborenen Kindes, aber er zeigte sich an der reinweißen Decke mitten zwischen den Balken der großen Halle. Das war eine Stelle, wo kein Riss sein durfte. Gestern war er bestimmt noch nicht dagewesen, das wäre Wouter aufgefallen. Seine Frau Rebekka sah, wie er nach oben starrte. Er zeigte ihr den Riss, aber sie lachte und sagte, er bilde sich etwas ein. Ihre blauen Augen blitzten im Schein des Kaminfeuers. »Du hast zu viele alte Häuser gesehen. Komm, setz dich zu mir und genieße unser wunderschönes neues Zuhause.«
Draußen pfiff der Wind ums Haus, und das Feuer im Kamin flackerte hin und her. Wouter setzte sich dicht neben Rebekka auf das Polster und schloss kurz die Augen. Sie fühlte sich weich und warm an und roch nach der Milch, die sie dem Säugling gegeben hatte. Er legte die Hand auf ihren Schenkel. »Du hast recht. Ich sehe Gespenster. Wir hatten einen gestandenen Baumeister, er hat solide gebaut. Schließlich hat er Unmengen Ziegelsteine und mächtige Balken zu diesem prächtigen Bau zusammengefügt, er wusste, was er tat. Ein kleiner Riss ist bedeutungslos.«
Von oben hörte er den Säugling weinen, und Rebekka stand auf, um nach ihm zu sehen. Sie überließ solche Aufgaben nicht der Magd, liebevoll und warmherzig kümmerte sie sich um das Kind. Ich bin ein Glückspilz, dachte Wouter, ich habe eine wunderschöne Frau, einen prachtvollen Sohn und das schönste Haus von ganz Wassenaar. Habe ein gutes Händchen gehabt, dass ich einen solchen Baumeister für mein Werk gewinnen konnte.
Der Mann aus Vrijenburg hatte den besten Preis für den Hausbau gemacht, den Wouter hätte kriegen können. Obwohl Wouter in seinem Metier gut verdiente, konnte er sich nicht leisten, einen einzigen Gulden zu verschenken. Niemand konnte das, der von ehrlicher Arbeit lebte. Es gab Baumeister, die den Leuten das Blaue vom Himmel versprachen, und die glaubten es, weil sie es nicht besser wussten. Wouter hingegen kannte sich aus. Seine Erfahrung sagte ihm, wo die Fallen lagen. Manche Baumeister sparten am Holz oder am Fundament, da, wo man es nicht sehen konnte, aber dergleichen hatte Wouter noch nie von seinem Geschäftspartner sagen hören. Er hörte Rebekka oben singen, und das Weinen des Säuglings verkam zu einem leisen Schluchzen. Wouters Blick wanderte wieder nach oben zur Decke. Täuschte er sich, oder stimmte es, dass der Riss eben größer geworden war?
Er hörte ein Knarren. Es schien von der Tür zu kommen, als wäre sie aufgesprungen, und wirklich bebte sie in ihrem Rahmen. Wouter stand auf und ging zur Tür, legte die Hand auf den Knauf und drehte ihn, aber er schien zu klemmen. Er rüttelte daran, bis die Tür mit einem Knall aufsprang.
Dann geschah alles auf einmal. Das Knarren wurde zu einem Bersten, Reißen, Kreischen, etwas riss Wouter die Beine weg, Steine stürzten neben ihm, über ihm herab, eine riesige Staubwolke stieg in den schwarzen, kalten Himmel über Wassenaar. Wouter spürte zuerst Schmerzen am ganzen Körper, dann nichts mehr. Er konnte nicht einmal denken. Mit dem schrecklichen Beben und Bersten war er in einen Schock gefallen, der ihn umfing und nicht losließ und der alle Schmerzen auf später verschob, auf eine Zeit, in der er sie würde ertragen können. Jetzt hätte er es nicht gekonnt. Er fühlte das Gewicht von Steinen auf sich, dass er kaum noch atmen konnte. Die Luft war von Steinstaub durchsetzt. Mühsam drückte er die Schulter gegen das Holz des Türstocks, das auf ihm lag, konnte es anheben und zur Seite schieben. Er sah nichts. Es war Dreck, der sein Gesicht bedeckte und ihm die Augen verschloss.
Als er in der Lage war, den Arm hervorzuziehen, wischte er sich das Sichtfeld frei. Ihm war, als stecke er in einem bösen Traum, so fremd sah alles aus. Nur ganz langsam begriff er, dass sich innerhalb eines Augenblicks sein Leben verändert hatte. Von überallher kamen Leute gelaufen, schrien und riefen. Er fand sich neben den aufragenden Mauern des linken Hausflügels auf einem riesigen Berg Schutt, gesplitterter Hölzer, Scherben. Wo eben noch das schöne neue Haus gestanden hatte, gab es nur die Wände des rechten Flügels. Der Rest fehlte.
Der Türsturz aus einem dicken Balken war sein Glück gewesen, er hatte die großen Brocken von seinem Kopf ferngehalten. Wouter kämpfte sich aus den Trümmern. Er schüttelte den Staub von seinen Kleidern, aus dem Haar und spuckte ihn aus den Zähnen. Im gleichen Augenblick packte ihn die Angst. Rebekka! Das Kind! Noch ehe die Nachbarn rufend und mit Lichtern in seine Nähe gekommen waren, grub er mit den Händen in den Trümmern, rief ihren Namen.
Ein Fetzen von Rebekkas Kleid lugte unter einem Mauerstück hervor. Er riss an den Steinen, seine Finger bluteten, er nahm kaum wahr, dass ihm jemand half, und schließlich sah er einen Arm, eine Hand. Sie regte sich nicht. Er starrte auf das, was man ausgrub. Das konnte nicht sein. Eben war Rebekka noch da gewesen. Er hatte den Klang ihrer Stimme im Ohr. Es war nicht sie, es war nicht sein Kind, die wie Puppen im Gras lagen, wohin man sie getragen hatte.
Wouter stand einen Schritt von den beiden Toten entfernt, die man noch nicht hatte bedecken können, weil kein Tuch hier war. Er starrte auf das blutige Gesicht seiner Frau, das leer und reglos im kalten Gras lag. In ihm kochte etwas. Ein unbändiger Zorn fraß sich von seinem Magen her über die Kehle bis in die Stirn. Das wirst du büßen, dachte er. Der Satz war alles, was es für ihn noch gab. Das wirst du büßen.