Ein einziger Blick auf einen blonden Schopf brachte alles durcheinander.
Wenn man Magdalene Rehnikel gefragt hätte, ob sie es für möglich hielt, dass ein einziger Anblick einen Aufruhr in ihrem Leben verursachen könnte, dann hätte sie noch tags zuvor energisch den Kopf geschüttelt und ungerührt weiter die Wäsche auf dem Waschbrett gebürstet. Ein einziger Anblick! Sie hätte gelächelt und ihre roten, rissigen Hände aus dem Wasser genommen, um sich mit dem Oberarm die kastanienbraune Locke aus der Stirn zu streichen.
Einen Tag später, als die Hemden auf der Bleiche beinahe trocken waren, als ihre Hände die allzu rote Farbe verloren hatten, als die Pflicht sie für die nötigen Einkäufe aus dem Haus lockte und ihr damit Gelegenheit verschaffte, sich ein paar Strahlen Sonne auf der Nasenspitze zu gönnen, geschah das, was sie tags zuvor noch ausgeschlossen hätte.
Die Wolken lagen wie bleierne Matten über dem Marktplatz, hockten auf der Spitze des Roten Turms und streckten ihre Arme nach den vier Türmen der Marktkirche aus. Ein feuchter Wind strich aus dem Grau. Dienstags, donnerstags und samstags fand der gewöhnliche Markt statt. Magdalene erreichte die Händler am Roten Turm, wo auch das Corps du Garde angebaut war, das Haus, in dem die Gens d’armes ihren Platz hatten. Sie fühlte mit der Hand nach ihrem Beutel. Er war noch da, innen am Gürtel, und genauso schmal wie immer. Geld war in ihrem Haushalt Mangelware. Das hielt sie nicht davon ab, umherzuschlendern, sich umzusehen und zu träumen. Magdalene liebte den Trubel, die bunten Waren, das Stimmengewirr. Sie war neugierig, was es Besonderes gab, denn irgendetwas Neues war jedes Mal dabei, Akrobaten, Schauspieler oder vornehme Leute in prächtigen Kleidern. Manchmal gab es reisende Händler, die Bänder und Spitzen aus Frankreich oder Delikatessen aus Holland anboten, oder Künstler stellten Missgeburten und Zwerge aus. Außerdem war es eine Zeit, in der sie sich keinen Pflichten unterwarf. Es war wohliges Nichtstun.
Magdalene spazierte langsam, um den Müßiggang auszukosten. Sie knöpfte den Mantel ein Stück weiter zu und band die Haube fest, weil der Wind um die Bänke pfiff und ganze Hände voll Staub zwischen die Menschen warf. Sofort, als sie ihren Blick über die Auslagen schweifen ließ, setzte der Lobgesang der Handwerkerfrauen ein. Jede pries ihr Geschirr, streckte die Hände vor und wies auf ihre besten Töpfe. Magdalene griff nach einem blauen Krug mit weißen Tupfen und betrachtete ihn, und sofort rief die Händlerin ihr einen Preis zu. Ein paar Schritte weiter kam ihr ein buckliger Hausierer mit einer Warentasche vor dem Bauch entgegen, der Schnüre und Schnallen feilbot. Die Wolken sanken tiefer, sie gingen mit einem Nieselregen schwanger. Der Wind grub seine Schneisen durch die Menschentrauben.
Die Leute beeilten sich mit ihren Einkäufen. Die Händlerinnen mit den empfindlichsten Waren, Tuch, Leinen und Weißwäsche, verschränkten die Arme und schwenkten die Blicke gen Himmel. Auch Magdalene legte die Hand an die Stirn und sah prüfend nach oben. Hinter der Spitze des Roten Turmes zog eine schwarze Wolke auf, die aussah, als könnte sie sich gerade über dem Markt erleichtern.
Dann passierte es.
Als sie den Blick senkte, sah sie einen Mann mit dem Rücken zu ihr vor einem Stand mit Ledergürteln stehen. Er strich sorgsam mit der Hand über eines der teuren Stücke, so wie sie eben über den Krug, als würde er gern etwas kaufen und spürte dem Griff des Leders nach. Der Mann war jung und trug einen blauen Mantel, neu und von guter Wolle, der seinem blonden Haar schmeichelte. Es war feines Haar, das im Wind flog, etwas länger und gerade geschnitten. Vom ersten Augenblick an wusste sie, dass sie ihn kannte. Er drehte sich um und zeigte ihr damit sein Gesicht.
Magdalene begann zu zittern. Sie erkannte den Mann. Ihn zu erkennen, bedeutete, dass sie an etwas denken musste, an das sie sonst nie dachte, und dafür hatte sie Gründe.
Sie hielt sich mit einer Hand am Tisch eines Töpfers fest, um nicht zu stürzen. Nicht einmal den Bruchteil eines Augenblicks hatte sie gebraucht, um den Mann wiederzuerkennen, obwohl es dreizehn Jahre her war, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Sie wusste sofort, wo das gewesen war, und damals war sein Rücken der letzte Anblick, den sie von ihm zu sehen bekam. Er hatte sich verändert, war an den Schultern breiter und um die Mitte dicker geworden. Das
Haar war noch dasselbe, er trug es genau wie früher. Es erinnerte sie an eine schreckliche Zeit in ihrem Leben. Wieso war dieser Mann am Leben?
Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr hatte sie geglaubt, er sei genauso tot wie ihr Bruder Christoph, sein bester Freund. Nie gab es Anlass, am gemeinsamen Tod der beiden zu zweifeln. Aber der Mann lebte. Innerhalb eines Augenblicks war eine dreizehn Jahre andauernde Gewissheit zu Staub zerfallen. Er stand drei Schritte von ihr entfernt, als wäre nie etwas Schlimmes passiert. Seine Gesichtszüge waren dieselben wie damals, hell und weich wie Weizenbrot. Seine Nase war dicker geworden, die Wangen hingen schlaff herab, ein Doppelkinn war ihm gewachsen. Mit seinen wasserblauen Augen sah er an ihr vorbei.
Sie konnte sich nicht erklären, warum sie nicht die Hand hob und winkte. Es mochte daran liegen, dass er ungewohnt erwachsen wirkte, anders als sie ihn zuletzt gesehen hatte, als
ungestümen, pausbäckigen Jüngling mit frechem Grinsen. Er schaute ernst, die Miene beinahe versteinert.
Sie begriff, dass ihr Zögern noch eine andere Ursache hatte. Er ängstigte sie, weil er eine grimmige Miene zog, als wollte er die Zähne fletschen. Sie drehte sich zur Seite, aber ihre Vorsicht war unnötig. Er sah mit so reglosem Blick an ihr vorbei, dass er sie nicht erkannt haben konnte. Entschlossen hob er das Kinn und ging mit festen Schritten in Richtung Neunhäuser. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und rieb fröstelnd die Hände über die Ärmel.
Als er ein paar Schritte entfernt war, gelang es ihr, sich zu fassen. Sie folgte ihm und versuchte, dabei unbemerkt zu bleiben. Er ging schnell und sie musste sich beeilen, um ihn zwischen all den Marktbesuchern nicht aus den Augen zu verlieren. Als er geradeaus über die Steinstraße hinweg in die Barfüßerstraße strebte, fiel ihr sein Name ein, nur der Vorname, denn mehr hatte sie nie gekannt: Rudger.
Christoph wäre jetzt zweiunddreißig Jahre alt, wenn er nicht vor dreizehn Jahren erschlagen worden wäre. Magdalenes Herz klopfte heftig. Seit dreizehn Jahren hielt Christoph unter der Erde seinen allerletzten großen Schlaf. Rudger und Christoph. Christoph und Rudger. Als ihr Bruder noch lebte, hatte es nie einen Zweifel gegeben, dass die beiden eins waren. Jetzt war nur noch Rudger da, Rudger allein, und das machte den Schmerz um Christophs Verlust mit einem Mal wieder so stark, dass sie ihn kaum ertragen konnte.
Rudgers Schritte führten zielstrebig fort, die Sporen an seinen Stiefeln klickten auf der steinernen Rinne in der Straßenmitte. Ohne sich umzusehen, verschwand er in einem der vorderen Häuser der Barfüßerstraße. Es war ein zweistöckiges Gebäude mit einer Handelsstube im Erdgeschoss, morschen Balken im Fachwerk, das Mauerwerk mit hellgelber Farbe übertüncht. Sie kannte das Haus, weil jeder in Halle es kannte. Hier wohnte der Jude Wolff. Wenn ein Hallenser hier eintrat, hatte er Geschäfte zu erledigen, so sagte man dazu, ein wenig verschämt, aber mit diesen Worten, die jeder verstand. Es waren Geschäfte, in denen Münzen, Schuldscheine oder Wechsel über den Tisch gingen. Man betrat das Haus nur aus diesem einen Grund, sonst hatte man nichts mit den Juden zu schaffen, den Ketzern, die für nichts anderes taugten als für Geldgeschäfte.
Magdalene blieb stehen und musterte die Tür, in deren Schatten der blonde Mann eingetaucht war. Fremde Leute passierten sie, Wagen rollten, eine Katze strich Magdalene um den Rock. Sie wartete eine Weile, aber Rudger blieb im Haus des Juden verschwunden, darum wandte sie sich ab und ging zurück in Richtung Markt.