Magdalene tat, als ob sie Sybille nicht gehört hätte, obwohl die Magd unübersehbar quer über den Platz auf sie zu segelte, den linken Arm im Henkel des Einkaufskorbs über den geblähten Röcken. »Etwas Schreckliches ist geschehen! Ein Eklat! Magdalene, ein Eklat!« Sybille näherte sich atemlos und presste die rechte Hand aufs Herz, als wäre es etwas, das sie selbst betraf. Magdalene blieb endlich stehen und sagte: »Meine Liebe, rege dich bitte nicht so auf. Erkläre mir lieber erst einmal, was ein Eklat ist.«
Sybille schüttelte die rotblonde Lockenmähne, die sie verbotenerweise offen trug, und raffte ihren Mantel enger um die Schultern. »Das ist das Wort, was die feinen Leute bei uns im Haus benutzen, und dabei fuchteln die Damen mit den Fächern. Die Herren flüstern. Also ist es nicht bloß Klatsch. Es muss etwas Wichtiges sein.«
»Lass die französischen Ausdrücke bleiben, wenn du nicht weißt, was sie bedeuten.« Magdalene schüttelte verärgert den Kopf. Sybille meinte, auf diese Art etwas vom feinen Benehmen aufzuschnappen. Sie hatte schon immer einen Hang zum Neid gehabt. Meinte sie, die richtigen Ausdrücke würden bewirken, dass der Reichtum auf sie abfärbte? Bestimmt nicht. Alles, was abfärbte, war die Überheblichkeit.
Sybilles Dienstherr Monsieur Milié war Franzose und sprach selten deutsch. Das brauchte er auch nicht, seine Kammerdiener und seine Gäste beherrschten das Französische gut genug. Sybille allerdings war nur eine Küchenmagd, stand vor Töpfen und Abfalltrögen in der Küche und ging bestenfalls einkaufen. Sie bekam ihre Anweisungen im schönsten Hallischen Dialekt vom Koch und der Hofmeisterin. Sie hatte keine Ahnung, was die Wörter bedeuteten, mit denen es Mode war, seine Reden zu spicken.
Magdalene ergänzte: »Wörter, die du nicht verstehst, solltest du lieber nicht verwenden. Das kann danebengehen. Du meinst, etwas Kluges zu sagen und schwatzt dummes Zeug, ohne es zu merken.«
Sybille zog beleidigt die Mundwinkel nach unten. Sie sollte sich nicht so aufspielen. In Monsieur Miliés Haus gab es keine Akademie mehr. Monsieur vermietete ein paar Kammern, Unterricht ließ er nicht mehr geben. Die neue Universität hatte nach Räumen gefragt, aber er war verschnupft genug gewesen, so lange mit seiner Antwort zu zögern, bis sie ihn nicht mehr brauchten. In seinem Haus wurden nur noch selten Gesellschaften mit feinen Gästen ausgerichtet. Seitdem war Sybille schwatzhafter geworden, weil sie zu viel Zeit hatte, auf den Klatsch der Leute zu hören.
Sybille fasste sie an der Schulter, aber Magdalene schob die Hand ihrer Freundin weg. Die maulte: »Dann sage ich dir eben nicht, was sie sich erzählen.«
»Richtig. Behalt’s für dich.« Magdalene ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, schon gar nicht von der klatschsüchtigen Sybille. Interessiert hätte es sie durchaus, was für einen Eklat es gab. Es gab hier einfach zu wenig Neuigkeiten. Halle lag weit entfernt vom Hof des Kurfürsten, da musste man sich mit winzigen Krümeln von Berichten über die Mode, von gesellschaftlichen Ereignissen, Feierlichkeiten und Kriegen zufriedengeben.
Magdalene kaufte ein Bündel Rapünzchen. Während sie der Marktfrau die Münzen reichte, erklärte sie Sybille über die Schulter hinweg: »Ein Eklat ist, wenn etwas Unerhörtes passiert.«
»Genau! Unerhört war das!« Sybille war stehen geblieben und hatte gewartet; jetzt folgte sie Magdalene, als sie, die Rapünzchen an sich gedrückt, weiterging. »Nun rede schon. Was ist so Schreckliches passiert?«
Sybilles grüne Augen blitzten. Mit einem verstohlenen Lächeln antwortete sie: »In der Ratswaage gab es einen Empfang. Lauter feine Leute waren eingeladen, solche wie die«, sie deutete mit dem Kopf zu den Damen in Grün, »und ohne dass einer gesehen hat, warum, haben zwei von den Damen angefangen, sich zu hauen. Die eine hat der anderen mit ihrem Stock eins drübergezogen, das hat die Jüngere sich nicht gefallen lassen, die hat die Alte an den Haaren gezerrt. Sie sind mit lautem Gekreisch übereinander gestürzt, was bei all den Schleifen kein Wunder ist. Auf dem Boden sind sie sich mit den Fingern ins Gesicht gegangen. Die Damen tragen Handschuhe, bloß deshalb ist kein Blut geflossen. Ein paar Männer sind dazwischengegangen. Jetzt haben die Damen Stubenarrest.« Sie atmete tief und strahlte. »Kannst du dir das vorstellen? Feine Damen wälzen sich auf dem Boden!«
Magdalene zuckte die Schultern und tat gelangweilt. »Jetzt weißt du, warum sie Handschuhe tragen: damit sie sich nicht die Augen auskratzen können.«
Die Sache mit der Prügelei war eine Geschichte, die noch lange zwischen den Mägden umhergeistern würde. Mägde brauchten ihre Zucht nicht ständig zu beweisen wie brave Bürgerinnen. Seht ihr, würden sie sich gegenseitig bestätigen, die Damen sind gewöhnliche Ziegen, wenn sie sich streiten. Die Manieren, auf die sie sich so viel einbilden, können verschwinden wie Eis in der Sonne. Die brauchen nicht auf uns herunterzuschauen, bloß, weil wir dafür zuständig sind, hinter ihnen herzuputzen.
»Tut mir übrigens leid wegen Anna«, sagte Sybille. »Ich habe es mir schon gedacht, als sie gestern den Pastor geholt haben.«
Magdalene nickte und schwieg.
»Wieso bist du überhaupt hier und nicht bei den Bertrams? Trauerst du auch nicht um Anna?«
»Aber natürlich! Anna war meine Amme, ich habe sie sehr geliebt. Aber Anna hätte gewollt, dass ich meine Arbeit nicht vernachlässige.«
Sybille grinste. Sie wusste genau, dass der Gang zum Markt für Magdalene eher Erholung als Arbeit war.
»Wieso überhaupt ›auch‹?« Magdalene war erst jetzt der merkwürdige Ausdruck aufgefallen.
»Ach, nichts.«
»Nun sag schon, was du damit gemeint hast.«
Sybille schürzte die Lippen. »Die Bertrams trauern jedenfalls nicht.«
»Oh doch, das tun sie. Du hättest meine Basen sehen sollen. Elisabeth und Katharina haben so laut geheult, dass die Wände wackeln. Ich meine, du hättest es sogar in deiner Küche hören müssen.«
»Halten sie Totenwachen? Oder verscharren sie Anna sang- und klanglos?«
»Um Himmels willen, was denkst du von meiner Familie? Natürlich wird Anna alle Ehren bekommen. Ich gehe morgen früh nach dem Morgenläuten zu meiner ersten Totenwache.«
Magdalene wartete. Wenn Sybille in einer Sache herumpiekte, hatte sie etwas auf dem Herzen. Richtig, Sybille legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Dein Onkel wird jedenfalls froh sein.«
»Worüber?«
»Dass er sie los ist.«
»Wieso?«
»Ich will nichts gesagt haben.« Sybille spitzte ihre Lippen und wartete, dass Magdalene sie ausfragte.
»Dann sag auch nichts.« Magdalene drehte sich weg und machte sich auf den Heimweg.