Die grauen Holzpantoffeln hat sie ordentlich neben sich gestellt. Die Arme um die angezogenen Knie unter dem verblichenen Rock geschlungen, sitzt sie in der Scheunenluke und schaut über die Felder. Die schmutzigen Zehen gucken unter dem Saum hervor wie kleine Zwerge. Sonne bescheint ihr Gesicht. Luise träumt, sie flöge wie die Schwalben auf und ab über die Felder und zwischen den Dächern. Um ihren kleinen Mund spielt ein Lächeln. Die dünnen blonden Zöpfe stehen seltsam starr ab vom runden Kopf des Kindes. Sechs Jahre alt ist Luise. Jüngstes Kind des Holzfällers Otto Heiter.
Neun Kinder sind es. Der Älteste, Otto, nach dem Vater genannt, ist seit Jahren Knecht in Jesuborn. Gut hat er es getroffen. Arno und August arbeiten in der Schneidemühle in Blankenburg. Helene ist Magd in Königsee. Karline hilft beim Pastor im Haushalt. Oskar und Ernst sind auf der Walz und Agnes hütet die Gänse des Gutsherrn. Nur Auguste Luise, das Nesthäkchen, hängt noch an Mutters Rockzipfel. Sechsundvierzig Jahre alt ist Christine, als sie noch einmal schwanger wird. Niemand im Dorf glaubt, dass die Geburt gut gehen wird. Aber am 18. Dezember schreit sich Auguste Luise in die Welt. Zeit, sich lange auszuruhen, hat Christine nicht. Der Gutsherr hat Gäste und braucht jede Hand. Dienstmagd ist Christine. Soll in der Küche helfen. Das Kind in einem Tuch auf den Rücken gehuckelt, stapft sie durch den Schnee ins Gutshaus. Mit zitternden Knien steht sie am Spülbecken und wäscht Töpfe und irdene Scherben.
Der Duft der köstlichen Speisen verursacht ihr Übelkeit. Unentwegt schreit das Kind. Der Koch zetert. Die Lakaien, die die Speisen auftragen, grinsen. Alles um Christine dreht sich. Sie droht zu stürzen. Der Küchenjunge fängt sie auf. „Geh heim“, flüstert er, „ich mach das mit.“ Das will Christine nicht. Sie braucht jeden Groschen. Die große Suppenschüssel, die ein Lakai bringt, rutscht ihr aus der Hand und zerspringt in tausend Scherben. Weinend setzt sie sich in eine Ecke. „Geh heim, los, schnell.“ Martha, die Küchenmagd, kehrt die Scherben zusammen. Schiebt Christine aus der Tür, ehe es der Oberkoch bemerkt. Leise vor sich hin weinend, schleppt sie sich über den Hof ihrer ärmlichen Behausung zu. Niemand sonst hat den Vorfall bemerkt.
Otto reagiert mit Jähzorn. „Nich mal ein Stück Fressen bringt das Weib mit! Wozu bist denn nütze! Ein Balg nach dem anderen!“ Er schreit, dass die Fensterscheiben klirren. Christine verkriecht sich in der Ofenhölle, weint vor sich hin und gibt der Kleinen die Brust. Vergebens saugt das Mädchen. Die Milch bleibt aus. Das Kind schreit und schreit. „Sch, sch, sch“, wiegt Christine es hin und her. Otto murrt und knurrt. Geht schließlich mit Gepolter aus der Tür. Die Frau hört ihn im Stall mit der Ziege schimpfen. Es scheint, dass er auf den Holzplatz hinterm Hause geht. Dumpf klingen die Schläge der Axt zu ihr herein. Langsam lässt sich Christine aus der Hölle gleiten. Im Schrank liegt ein Kanten Brot. Sie nimmt ihn und zerschneidet ihn in kleine Stücke. In eine Schüssel gießt sie Milchkaffee, der am Herd steht, brockt das Brot hinein und vermengt es zu einem Brei. Eine nussgroße Portion füllt sie in ein kleines Tuch. Das dreht sie fest zusammen. Eine Kugel entsteht. Mit Bindfaden schnürt sie sie zusammen. Dann saugt sie kurz daran und schiebt sie dem schreienden Kind in den Mund. Die Kleine reißt die Augen auf, verschluckt sich, hustet kurz und beginnt zu saugen. Dabei verzieht sie leicht das Gesicht. Aber es wird still in dem engen Raum. Christine wischt sich die Tränen von den Wangen. Voller Sorge blickt sie auf das kleine Wesen. Blonde Härchen kringeln sich um die Stirn. Das Kind hält die Augen geschlossen und saugt und saugt. Schläft langsam ein. Christine taucht die Brotkugel noch einmal in den Kaffee und schiebt sie in den kleinen Mund. „Was soll werden?“, klagt sie vor sich hin. Erschöpft nickt sie mit dem Kind auf dem Schoß ein.
Jetzt, sechs Jahre später, sitzt Luise in der Scheunenluke und träumt, sie flöge wie die Schwalben auf und ab über die Felder und zwischen den Dächern.
„Liese?“ Die Mutter ruft. Das Mädchen rührt sich nicht. Reckt das Gesicht weiter der Sonne zu. „Liese!“, jetzt lauter und noch einmal mit Nachdruck: „Liese!“
Luise schreckt auf: „Ja, Mutter!“
„Wo bleibst denn? Ich wart auf die Äpfel!“