Burg Mahrenberg, Spätsommer 1271
»Macht das Tor auf!«
Die Stimme des Kärntner Landeshauptmanns durchschnitt die gespenstische Stille wie das unheilverkündende Grollen eines heraufziehenden Gewitters. Keiner der rund zwanzig Ritter, die sich vor der Zugbrücke am Eingang der Mahrenberger Burg versammelt hatten, gab ein Geräusch von sich. Nur der trockenwarme Wind pfiff lautstark und penetrant um das steinerne Gemäuer, wirbelte eine Prise Staub vom Boden auf und blies sie den Männern in die Gesichter. Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Die Drau unten im Tal führte weit weniger Wasser als für gewöhnlich und die bewaldeten Hänge, die das Flussbett säumten, zeigten vereinzelt schon die Farben des Herbsts. Braunes, ausgedörrtes Laub zierte die Bäume und überall staubte es bei jedem Schritt, den Mensch oder Tier voranschritt.
Arnulf hatte sich ein Tuch über Mund und Nase gezogen, um zu verhindern, dass ihm gar zu viel Dreck im Hals stecken bleiben konnte. In gespannter Erwartung starrte er auf das Tor aus massiver Eiche am anderen Ende der Zugbrücke. Normalerweise sollte dieses offen sein oder ein bis zwei Wächter müssten oberhalb davon zwischen den Zinnen hervorschauen, sich für ihre Unachtsamkeit entschuldigen und dann alsbald den Eingang freimachen. Doch kein Mensch weit und breit war anzutreffen.
Der Kärntner Landeshauptmann Ulrich von Dürrenholz, der ihre Gruppe anführte, wurde so langsam ungeduldig. Er würde handeln müssen, dachte sich Arnulf. Seifried von Mahrenberg, vor dessen Burg sie hier standen, war verpflichtet, ihnen Einlass zu gewähren – zumal sie als Gesandte des Herzogs hierhergekommen waren. Auch musste der Burgherr sie längst gesehen haben. Schon am späten Vormittag war Přemysl Ottokar mit einer beachtlichen Anzahl von Gefolgsmännern im zur Burg gehörigen Dorf unten im Drautal angekommen.
Přemysl Ottokar, König von Böhmen und Herzog von Österreich, Steiermark und Kärnten, Krain und der Windischen Mark, befand sich auf einer Reise von Friesach nach Marburg an der Drau. Erst vor wenigen Wochen hatte er mit dem ungarischen König Stephan ein Friedensabkommen getroffen, nachdem es zwischen den beiden Königen in den letzten Jahren immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen war.
In der Vergangenheit hatten die beiden schon des Öfteren Waffenstillstände vereinbart, die aber immer wieder gebrochen worden waren. Doch der jetzige Friedensschluss barg etwas Endgültiges in sich. Přemysl Ottokar hatte versprochen, mehrere von ihm eroberte Städte und Landstriche an Ungarn zurückzugeben. Im Gegenzug entsagte König Stephan allen Ansprüchen auf die Herzogtümer Österreich und Steiermark. In den letzten Jahren hatte Přemysl Ottokar aus taktischen Gründen bei Entscheidungen, was die Vergabe von Posten anging, noch Rücksicht auf die Situation mit Ungarn genommen. Der neue Friedensschluss änderte die Lage. Deswegen hatte er kurz nach Abschluss des Abkommens begonnen, einen Adeligen nach dem anderen seines Amtes zu entheben und sie durch Männer zu ersetzen, denen er mehr vertraute. Ein Gewinner dieser neuen Politik war Ulrich von Dürrenholz, ein breitschultriger Hüne, dessen verschwitzte hellbraune Locken nur ansatzweise seine langgezogene Narbe auf der linken Wange verdeckte. Erst vor wenigen Wochen hatte Přemysl Ottokar ihn zum Landeshauptmann von Kärnten ernannt. Jetzt stand er mit rund zwanzig Rittern vor der Burg Seifrieds von Mahrenberg und wartete, dass irgendjemand von der Besatzung sich zeigte.
»Öffnet das Tor!«, rief er abermals in befehlendem Ton. »Im Namen des Herzogs, öffnet das Tor!«
Noch immer war von der Innenseite der Burganlage kein Ton zu vernehmen. Ulrich von Dürrenholz’ Schlachtross trippelte bereits nervös auf der Stelle. Ungeduldig stieß er seinem Tier in die Seiten und trieb es über die Zugbrücke. Als er das Tor erreichte, hieb er mit dem Knauf seines Schwertes dagegen. Ein fahles »Bum-bum-bum« dröhnte über den Vorplatz. Dann wieder Stille.
Als ein Vasall des Herzogs wäre es Mahrenbergs Pflicht gewesen, sich von der Burg hinab in das Tal zu begeben, um Přemysl Ottokar auf der Durchreise zu begrüßen, ihm seine Dienste und andere Gastfreundschaften anzubieten und ihn außerdem noch ein Stück der Wegstrecke nach Marburg zu begleiten. Doch nichts dergleichen hatte Seifried von Mahrenberg unternommen. Es gab wohl kaum eine größere Beleidigung, die er Přemysl Ottokar entgegenbringen konnte. War ihm nicht klar, dass der Herzog ihn als einen Verräter betrachten würde, fragte sich Arnulf. Er wischte sich ein paar verschwitzte Strähnen seines langen schwarzen Haares aus der Stirn und hustete. Der vom Wind aufgewirbelte Staub hatte sich von dem Tuch vor der Nase und dem Mund nicht gänzlich abhalten lassen und kratzte im Hals. Sein Freund Dietmar von Losenstein warf ihm einen verunsicherten Blick zu. Was ist hier los, sagte der Blick. Wann wird der erste Pfeil auf uns niedergehen, fragte sich Arnulf und: Was bezweckt Mahrenberg?
Noch während er sich eine um die andere Frage stellte, gesellte sich zu dem Pfeifen des Windes ein weiteres Geräusch. Das Klirren eines Schlüssels. Das Quietschen von Holz. Langsam öffnete sich das Burgtor. Ein Wachmann erschien und schob es gänzlich zur Seite, sodass der Weg ins Innere der Burg frei war. Argwöhnisch musterten die Ritter den Mann, der sie mit einem Blick anstarrte, den Arnulf nicht deuten konnte. War es Angst oder eher Trotz, was der Mann verkörperte?
»Was soll das?«, hielt ihm Ulrich von Dürrenholz in seinem stark böhmischen Akzent vor. »Warum ist das Tor verschlossen, als würdet ihr euch vor einem Feind schützen wollen?«
»Gefährliche Zeiten«, konterte der Mann vorsichtig.
»Ach, und wer genau ist es, der euch gefährlich werden könnte?«, fauchte der neu ernannte Landeshauptmann.
»Der Adel hier unten im Süden ist gespalten. Nicht alle unterstützen Přemysl Ottokar als Herzog. Viele halten zu Philipp von Spanheim, dessen Familie seit Generationen die Herzogswürde von Kärnten innehatte.«
»Ach! Und wen unterstützt dein Herr Seifried von Mahrenberg?« Die Stimme Ulrichs von Dürrenholz klang so schneidend wie die frisch polierte Klinge eines Schwertes.
»Selbstverständlich Přemysl Ottokar.«
»Vor wem also habt ihr dann Angst, dass ihr vor den Männern des Herzogs das Tor verschlossen haltet?«
Betreten sah der Mann zu Boden.