Der Fälscher von Ruysmaar
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Dass das Strafgericht ausgerechnet einen Tag vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag über Willem van Ruysdael hereinbrach, war Zufall, dass es sich überhaupt ereignete, nicht.
Schon Tage vor jenem 29. September 1695 veränderte sich die Stimmung im breiten reetgedeckten Haus der Ruysdaels oberhalb der Polder. Der Hügel, auf dem es stand, und mit ihm das Haus wurde Ruysmaar genannt, und dort wohnte die Familie seit der Eindeichung des Landes vor vielen Jahrzehnten. In jenen Septembertagen kühlte es deutlich ab, und mit der Luft erkalteten die Gespräche im Haus, als gehörten sie zum Herbstwetter. Selbst das Schweigen vertiefte sich, wurde länger und schwerer. Willem hatte ein feines Gespür für Dinge wie die Launen anderer Menschen, aber er deutete sie nicht zu seinen Ungunsten. Das tat er nie. War es nicht immer gut ausgegangen? Hatte er nicht in jeder Situation mit der Eingebung des Augenblicks Ärger in Lachen verwandeln, Unmut in Aufbruch verkehren können?
Ein Warnzeichen entging ihm. Drei Tage vor seinem Geburtstag war es zu einem Wortwechsel zwischen seinen Eltern gekommen, den er aus der Kammer nebenan belauschte. Durch den Türspalt sah er, wie seine Mutter, aufrecht in der Mitte der Halle, den Kopf und mit ihm die steife weiße Haube und die braunen Locken schüttelte, die darunter hervorquollen. Sie legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. »Jozua, sei nicht so hart zu Willem. Er ist noch so jung, blutjung. Kannst du nicht sehen, dass er im Grunde noch ein Kind ist? Es genügt doch, wenn er das Studium später anfängt, in ein, zwei Jahren vielleicht.«
Jonkheer Jozua van Ruysdael richtete sich auf. Er zog den Arm unter ihrer Hand weg und schritt quer durch die Halle an das große Fenster, das den Blick in die Weiden eröffnete, die sich weit ins Land streckten. Die flache Gegend um Ruysmaar ernährte seine Familie seit Generationen, und bis jetzt war jeder Spross der Ruysdaels seinen Pflichten nachgekommen. Fleiß und Gottesfurcht waren die Grundpfeiler, auf denen der Hof und die Familie standen. Auch sein Jüngster musste das lernen.
»Es geht uns gut, Jozua«, versuchte es seine Frau noch einmal, »Joost übernimmt eines Tages den Hof, Remko hat seine Studien bald abgeschlossen und Hendrikje und Jolanda sind gut verheiratet. Was schert es uns, wenn das letzte unserer Kinder noch im Haus ist? Lass den Jungen seinen eigenen Weg finden, er ist nicht einmal einundzwanzig Jahre alt.«
»Eben«, entfuhr es dem Hausherrn. »Er ist fast einundzwanzig. In dem Alter hatte ich längst meinen Weg gefunden. Weißt du noch, wie alt ich war, als ich um deine Hand angehalten habe? Siehst du. Da hatte ich schon den Hof und die gesamte Wirtschaft übernommen.«
»Aber nur, weil dein Vater gestorben war«, wagte seine Frau zu widersprechen.
Die Stirn ihres Mannes rötete sich. »Wenn Willem dazu selbst nichts Besseres beitragen kann, als sich hinter dem Rock seiner Mutter zu verstecken, dann soll er am nächsten Ersten nach Leiden gehen und Theologie studieren. Das ist mein letztes Wort.« Mit großen Schritten stiefelte er hinaus, warf die Tür hinter sich zu und zog im Gehen den Mantel über, um den üblichen Weg zu den Pächtern seiner Weiden zu nehmen.
Frau Alida sank auf ihren Stuhl. Ihre Hände umschlangen die geschnitzten Armlehnen.
Die Tür hinter ihr öffnete sich. »Ist er weg?«, flüsterte Willem. Er setzte sich neben seiner Mutter in den nächsten Stuhl und strich ihr über den Handrücken. Dann atmete er tief ein. »Ich habe alles gehört, Mutter. Du brauchst nichts zu sagen.«
Sie schlug den Blick zu ihm auf und widerstand dem Drang, über sein Haar zu streichen. Seine wilden Locken glichen ihren, die kleinen braunen Augen machten ihn zu ihrem jungen männlichen Ebenbild. Nur Joost, der Älteste, und Willem kamen nach ihr, die drei anderen Kinder hatten die dünnen blonden Haare des Vaters geerbt. Von seinem Vater hatte Willem das freie Wesen, aber äußerlich nicht mehr als die zartgliedrigen Hände, die für die Landarbeit ungeeignet schienen, und die enganliegenden Ohren fast ohne Ohrläppchen. Frau Alida legte den Kopf schräg und fuhr mit ihrem Blick liebevoll um die schlanke Gestalt ihres jüngsten Kindes. Willem war ihrem Herzen von Anfang an am nächsten gewesen, von der ersten Minute seines Lebens an, weil er sofort die Augen aufschlug, als er geboren war, und sie ansah, als ob er sie schon als winziger Mensch verstünde. Auch jetzt saß er neben ihr und tröstete sie, als wäre sie es, um deren Schicksal es ging. »Am nächsten Ersten«, meinte er, als ginge es um eine Kleinigkeit, »das sind noch fünf Tage. Bis dahin fällt mir etwas ein.«
Frau Alida seufzte. Das hochgeschlossene schwarze Kleid lag am Hals eng an, sie fuhr mit dem Finger unter den Kragen und atmete tief ein. »Hast du wenigstens die Bestätigung von Pastor de Waal unterschreiben lassen, dass du an allen Unterrichten teilgenommen hast? Dein Vater ärgert sich, dass du die Gottesfurcht nicht ernst genug nimmst.«
Willem lächelte. »Aber natürlich.« Er griff in seine Jacke, in deren Innentasche das gefaltete Papier steckte, zog es heraus und streckte es seiner Mutter hin.
Sie klappte es auseinander und las. »…bestätige ich, dass mein Zögling Willem van Ruysdael alle Unterrichte im Katechismus besucht und mit Erfolg abgeschlossen hat. De Waal, Pastor zu Ruysmaar.«
Sie seufzte erleichtert. »Dem Himmel sei Dank. Ich dachte schon, du hättest die Hälfte geschwänzt. Ich meine, ich hätte dich ausreiten sehen, statt dass du zum Unterricht gegangen wärst. Deine Stiefel waren schlammig, als du wiederkamst.« Sie sah ihrem Sohn in die Augen. Ein Hauch Argwohn lag in ihrem Blick. Selbst sie hatte Gründe, ihrem Liebling nicht zu trauen.
Willem lächelte und streichelte erneut ihren Handrücken. »Ich weiß. Ich habe den Weg zu Pferd gemacht, obwohl es ins Dorf nicht weit ist. Das wird mir Vater doch nicht verwehren? Ich habe mich im Glauben geübt, wie er es wollte, und mir nur die Strecke versüßt.«
Endlich erwiderte sie das Lächeln. »Dann ist es gut. Ich werde ihm das Papier hinlegen. Du solltest dir schnellstens etwas einfallen lassen, was du für deine Zukunft vorhast. Wenn du deinen Vater nicht mit einem guten Gegenvorschlag überzeugst, wird es die Theologie werden, fürchte ich.«
»Kannst du dir einen schlechteren Pfarrer vorstellen als mich?«
Seine Mutter antwortete nicht auf diese Frage. »Das Studium wird dich läutern«, sagte sie, stand auf und verließ die Halle in Richtung Küche, ohne sich nach ihrem Jüngsten umzudrehen.