Als Sophie das Gesicht der Königin sah, begriff sie, dass die Welt nie wieder dieselbe sein würde. Vor zwei Tagen war die Nachricht in Versailles eingetroffen, dass der Pöbel die Bastille gestürmt hatte. Ungläubiges Erstaunen hatte sich im Schloss ausgebreitet. Mittlerweile herrschte blankes Entsetzen.
Eben war Marie Antoinette von Frankreich von einer Beratung mit den Ministern zurückgekommen. Sie wollte ein letztes Mal versuchen, den König umzustimmen. Der Herzog von Artois, der Prinz von Condé und der Herzog von Blois hatten mehrere Regimenter zusammengezogen, doch der König hatte ihnen befohlen, die Truppen zurückzuziehen. Er wollte keine Konfrontation mit dem Volk. Marie Antoinette hatte versuchen wollen, den König dazu zu bringen, um seine Krone zu kämpfen. Doch ein Blick in die Augen der Königin offenbarte, dass dieses Anliegen gescheitert war. Mehr noch, Marie Antoinette hatte die Hoffnung verloren. Ein dunkler Schatten lag über den Augen der Monarchin. Sofort breitete sich die bedrückte Stimmung unter ihren Hofdamen aus. Keine wagte es, die Königin anzusprechen. Sophie war seit einigen Jahren Hofdame bei Marie Antoinette. Die Königin war gut zu ihr, es hatte sich mit der Zeit eine Vertrautheit zwischen ihnen entwickelt, die Sophie sehr schätzte. Sie empfand Mitleid mit ihrer Königin. Gleichzeitig spürte sie selbst eine Angst in sich wachsen, vor der sie die Kampfeslust der Königin bisher bewahrt hatte. Was würde geschehen, wenn der Pöbel hier in Versailles erschien?
Ruhelos ging die Königin im gelben Salon auf und ab. Die ihr dargebotenen Erfrischungen ließ sie ebenso links liegen, wie sie von ihrem Hofstaat kaum Notiz nahm.
Ein deutliches Kratzen an der Tür durchbrach die drückende Stille. Erschrocken blickte die Königin zur Tür. Ihr anmutiger schlanker Hals, ihr ebenmäßiges, schönes Gesicht wirkten zerbrechlich. Kaum merklich nickte sie dem Gardesoldaten an der Tür zu. Dieser öffnete langsam. Sophie starrte, wie alle anderen Hofdamen, gebannt auf die Tür. Fast erwarteten sie eine Schar Aufständischer, die ihnen die Köpfe abschlagen wollte. Oder waren es dieses eine Mal gute Nachrichten?
Im Türspalt erschien die Prinzessin von Lamballe, Intendantin des Hauses der Königin und ihre enge Freundin. Fragend blickte die Königin die Prinzessin an. Diese schwebte mit ihrem ausladenden Reifrock aus hellblauer Seide auf die Königin zu, fasste sie am Arm und raunte ihr etwas zu. Wie zu Salzsäulen erstarrt standen die übrigen Hofdamen um die beiden herum, peinlichst darauf bedacht, kein bisschen Stoff rascheln zu lassen, um nichts von dem Gesagten zu verpassen.
„Der Herzog von Artois und der Prinz von Condé reisen in einer Stunde ab.“
Die Miene der Königin verfinsterte sich weiter.
„Und Yolande?“, flüsterte Marie Antoinette.
Sophie wusste sofort, wer gemeint war. Yolande Martine Gabrielle de Polastron, Herzogin von Polignac, war lange die intimste Freundin der Königin gewesen. Die Beziehung war so eng, dass es am Hof und in Paris zu Gerede kam. Voller Neid hatte der alte Adel in Versailles und der Pöbel in der Hauptstadt mit dem Finger auf diese Verbindung gedeutet. Niemandem wollte gefallen, dass die Herzogin von Polignac ihre ganze Sippe mit Adelstiteln und gut bezahlten Posten ausstattete. Sie war auch Gouvernante der königlichen Kinder gewesen. Vor vier Jahren war die Beziehung abgekühlt. Doch diese kurze Frage der Königin zeigte Sophie, dass sie ihr immer noch viel bedeutete.
„Auch sie wird nach Trier aufbrechen“, antwortete die Prinzessin.
Nach Trier? Warum sollten gerade jetzt die beiden wichtigsten Berater des Königs und eine der engsten Freundinnen der Königin nach Trier reisen?
Marie Antoinette griff nach der Hand der Prinzessin und begann zu schluchzen.
„Dann ist es wohl entschieden.“
„Ja, der König hat den Befehl eben unterzeichnet“, bestätigte die Prinzessin.
„Wie kann er das nur tun?“, brachte die Königin hervor. „Sie sind die Einzigen, die den Pöbel noch aufhalten könnten. Sie haben genügend Soldaten, um Paris zu befreien. Wie kann er sie nun wegschicken?“
„Eben deshalb“, erwiderte die Prinzessin. „Das fordert die Nationalversammlung. Sie machen es zur Bedingung. Nur, wenn der Herzog von Artois, der Prinz von Condé und die Herzogin von Polignac noch heute ins Exil aufbrechen und alle Truppen abgezogen werden, sind sie bereit, mit dem König zusammenzuarbeiten.“
Marie Antoinette stieß hörbar die Luft aus.
„Er sollte sich dafür schämen! Seit wann lässt sich ein König vom Volk erpressen?“
„Möchtest du dich noch verabschieden?“, fragte die Prinzessin.
Die Königin schien mit sich zu ringen.
„Nein, ich schaffe es nicht“, flüsterte sie.
Sie ließ die Prinzessin los, wandte sich um, lief auf die Tür zu, hielt inne, machte kehrt und schritt an den Sekretär aus dunklem Nussbaumholz. Sie zog ein Papier aus einer der Schubladen, setzte sich und begann mit kratzender Feder etwas aufzuschreiben. Sie schrieb lange. Immer wieder hielt sie inne, stützte den Kopf in die Hände, dann kratzte die Feder weiter. Die Hofdamen blieben wie angewurzelt stehen. Niemand wollte diesen intimen Moment der Königin stören.
Endlich war sie fertig. Behutsam faltete sie das Blatt, erhitzte das Siegelwachs an einer Kerze, tropfte es auf das Papier, drückte ihr Siegel hinein und stand auf. Sie schien den Moment der Schwäche überwunden zu haben. Suchend blickte sie sich im Raum um. Ihr Blick blieb an Sophie hängen.
„Würden Sie diesen Brief so schnell wie möglich der Herzogin von Polignac bringen?“
„Sehr wohl, Eure Majestät“, brachte Sophie leise heraus, stolperte auf die Königin zu, verbeugte sich und nahm den Brief in Empfang. Sogleich strebte sie zum Ausgang, um die Herzogin zu suchen.
Als sie die breite Marmortreppe hinunterhastete, sah sie in der großen Eingangshalle einige Edelleute in Gruppen zusammenstehen. Kaum einer nahm Notiz von ihr. Wo sollte sie die Herzogin von Polignac finden? War sie noch in ihren Gemächern oder bereits auf dem Weg zu ihrer Kutsche? Sophie zögerte kurz, bevor sie auf das Hauptportal zustrebte. Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sie blickte sich um und wäre beinahe in den Diener gerannt, der bemüht war, ihr rechtzeitig das Tor zu öffnen. Aus einer Gruppe von jungen Edelleuten hatte sich eine Gestalt gelöst und kam auf sie zu. Louis Philippe du Blois. Erfreut grüßte sie ihren Geliebten mit den Augen. Sie hatte sich vor gut einem Jahr unsterblich in diesen groß gewachsenen Sohn des Herzogs von Blois verliebt. Da er Erbe eines Herzogtitels und sie nur die Tochter eines Generals war, gab es wenig Hoffnung, dass sie eines Tages heiraten konnten, zumal Louis Philippe mit einer Prinzessin verlobt war. Aber sie trafen sich heimlich, wann immer sich eine Gelegenheit bot.
Unauffällig bedeutete er ihr, ihm zu folgen. Sophie nickte dem Diener dankend zu, der das Tor für sie geöffnet hatte, folgte aber Louis Philippe in den Gang in Richtung der Hofkapelle.
„Artois und Condé müssen fort“, flüsterte sie. „Was ist mit deinem Vater?“
„Noch ist er stellvertretender Kriegsminister. Wer weiß wie lange.“
„Muss auch er Frankreich verlassen?“
„Bis jetzt hat ihn niemand dazu aufgefordert“, erwiderte Louis Philippe. Er wandte sich ihr zu, fasste sie an der Schulter und küsste sie. Sophie genoss den Kuss, machte sich jedoch nach kurzer Zeit los. Sie wusste, in welcher Gefahr sie sich befanden, wenn sie gesehen wurden.
„Ich muss diesen Brief überbringen“, flüsterte sie und sah sich nervös um. „Weißt du, wo die Polignac ist?“
Louis Philippe schüttelte den Kopf.
„Auch sie muss fort“, ergänzte er.
„Ist das nicht furchtbar?“
„Das ist noch nicht alles“, fuhr er fort. „Der König hat zugesagt, morgen nach Paris zu fahren und sich dort vom Volk empfangen zu lassen. Der Pöbel kann nicht nur eine königliche Festung ungestraft stürmen, sondern auch den König nach Belieben vorladen.“
Sophie wurde bleich.
„Aber wer kann den Pöbel aufhalten, damit nicht morgen der Kopf des …“ Sophie verstummte.
Louis Philippe blies hörbar die Luft aus.
„Alle Regimenter mussten auf Befehl des Königs abziehen. Die Nationalversammlung hat dem König sicheres Geleit zugesagt.“
„Wie wollen sie das machen?“
„Es wurde eine Nationalgarde gegründet. Nun hat der Pöbel eine eigene Armee. Und das Schlimmste: kommandiert wird sie vom Marquis de La Fayette.“
Plötzlich wurden Stimmen laut. Sophie stieß sich von Louis Philippe weg und versuchte, möglichst gelangweilt dreinzuschauen. Schon bogen einige Diener um die Ecke, beladen mit diversen Kisten und Körben. Es folgten zwei Gardesoldaten und einige Hofdamen. Sophie erkannte zwei von ihnen und erinnerte sich an ihren Auftrag. Bei den Kisten handelte es sich offenbar um das persönliche Gepäck der Herzogin von Polignac. Sophie wandte sich um und folgte dem Trupp in Richtung Tor. Wo auch immer das Gepäck hingetragen wurde, früher oder später würde die Herzogin nachkommen.
Als Sophie ins Freie trat, sah sie drei Kutschen im Hof stehen, die von zahlreichen livrierten Dienern beladen wurden. Eben bog eine vierte Karosse in den Hof. Begleitet wurde sie von einigen Reitern. An ihrer Spitze erkannte Sophie den Marquis de La Fayette. War das eine Eskorte der neuen Nationalgarde? Wer würde wohl in diese Kutsche steigen? Als der Wagen anhielt und zwei Diener an die Tür eilten, um sie zu öffnen, wurde Sophie klar, dass diese Kutsche niemanden abholen, sondern jemanden bringen sollte. Kaum war die Tür geöffnet, stieg ein mittelgroßer Mann aus, dessen massiv ausgeprägte Kieferpartie ihn sofort zu erkennen gab. Jacques Necker. War der abermals verbannte Finanzminister schon wieder zurückgeholt worden? Ungläubig beobachtete Sophie, wie Necker die Diener anwies, die Kisten auf dem Dach der Kutsche in den Ministerflügel zu tragen.