Luuk Bosman schulterte das Bündel mit seinem Werkzeug. Es war nur ein Leinensack, darin trug er den Hobel, die Stemmeisen, eine kleine Säge, verschiedene Feilen und Raspeln, Bohrwinde, Hammer und Messer. All das war sein Eigentum, sorgfältig gesäubert und in Tuch gewickelt. Er konnte sich nicht leisten, etwas davon zurückzulassen, wenn er ging.
Er ging ohne Abschied, weil es Zeit war. Luuk war aufmerksam genug, um aus den Worten anderer Menschen rechtzeitig herauszulesen, wann der Zeitpunkt gekommen war. Dieses Mal war es die Tochter seines Meisters, Laurentien, die ihn gewarnt hatte, ohne es zu wissen. Dieses Mal war sie selbst der Grund, warum er verschwinden musste. Er hatte schon verschiedene Gründe gehabt, zu gehen, aber dieser war dringender als alle anderen.
Der Abend war wunderschön gewesen. Er war der Beginn einer lauen Frühlingsnacht, in der Luft lag der Geruch nach Gras und Blüten. Der Duft kam in diesem Jahr früher als sonst. Sie waren in den Polderwiesen spazieren gewesen. Wenn ein junger Mann und ein Mädchen zusammen spazieren gehen, sehen die Leute genau hin und murmeln etwas von Schicklichkeit. Der Meister erlaubte es trotzdem, das hatte Luuk überrascht. Meister Van de Velde war sonst sehr streng und ließ keine Freiheiten zu, nicht einmal, wenn seine Frau ihn darum bat. Seine Tochter war gerade erst neunzehn. Luuk dachte nicht daran, Laurentien etwas Unschickliches anzutun, aber das konnte der Meister nicht wissen. Luuk war ein gestandener Mann von fünfunddreißig Jahren, und unverheiratete Männer in seinem Alter waren oftmals Raubeine von unstetem Charakter. Bei einigem Überlegen hätte Luuk schon vorher darauf kommen können. Warum vertraute ihm der Meister seine Tochter an, ohne ihm im Vorhinein eine Standpauke zu halten?
Luuk war Hand in Hand mit Laurentien über die Wiesen gegangen. Seit Wochen sprachen sie bei jeder Gelegenheit miteinander, lange und leise. Es gab immer einen Grund, warum Laurentien sich an Luuk wandte, während sie in der Werkstatt saß. Ihre Wangen glühten, wenn sie ihn sah; sie kam öfter als früher in die Werkstatt, um ihren Vater zu besuchen. Dabei war der Vater ein vielbeschäftigter Meister. Sie setzte sich auf einen Stapel Bretter und sah den Männern zu, warf hin und wieder einen Scherz in die Runde der acht Schreiner und parierte das Necken der anderen.
Luuk wusste, dass sie in Wirklichkeit nicht wegen ihres Vaters kam. Sie kam ausschließlich, um Luuks Nähe zu suchen. Laurentien gefiel ihm. Sie besaß ein glucksendes Lachen und Grübchen in den Wangen. Er mochte auch die Arbeit in der Werkstatt. Meister Van de Velde besaß die größte Schreinerwerkstatt in ganz Ridderkerk, und Luuk arbeitete schon seit zwölf Monaten für ihn. Zwölf Monate war eine lange Zeit, so lange war er noch nirgends geblie-ben. Seine letzte Werkstatt war die in Barendrecht gewesen, wo er nur vier Wochen gearbeitet hatte, davor war er für drei Monate bei Meister Schouten in Rhoon geblieben, und davor war es ein anderer, immer ein anderer.
Luuk erinnerte sich nicht mehr an alle Stationen seiner Laufbahn. Er konnte sich noch an jede Minute und jeden Wimpernschlag seiner Jugend erinnern, aber nicht an all die Schreinerwerkstätten, die er in den letzten Jahren mit Holzstaub bepudert hatte. Letzten Endes waren sie alle gleich. Überall nahm man ihn mit Skepsis auf, wenn er sagte, dass er mit geringem Lohn zufrieden war und als einfacher Schreiner arbeiten wolle. Er kam ohne Zeugnisse. Er besaß nicht einmal ein zweites weißes Hemd, sondern nur das eine, das er sonntags in der Kirche trug. Überall gab man ihm die schlechte Arbeit, das eintönige Schleifen oder grobe Zusägen. Es machte ihm nichts aus. Er war schweigsam und beständig. Keine seiner Arbeiten bot Anlass, ihn zu tadeln. Wenn es nach Luuk gegangen wäre, dann hätten ihm eine gute Arbeit, ausreichendes Essen und ein schmales Bett genügt.
Aber damit hatte es nie sein Bewenden. Luuk kannte das. Fast immer begann es damit, dass sie ihm bessere Arbeiten gaben. Manchmal musste er Hand anlegen, weil ein großer Auftrag gekommen war, ein andermal kam es dazu, weil einer der älteren Schreiner ausgefallen war. Luuk konnte nicht verbergen, dass es ihm Freude machte, das Holz zu berühren, es zu gestalten, zum Leben zu erwecken. Er fand mit Leichtigkeit die richtigen Formen für Konstruktionen, schnitt Keile und Nuten, ohne ein einziges Mal nachschneiden zu müssen, und schliff Verzierungen so fein wie Blütenblätter. Es gab Gelegenheiten, Intarsien in Tischplatten und Schranktüren zu schneiden oder den geschwungenen Fuß eines Sekretärs herzustellen. Luuk verzog keine Miene, wenn seine Meister vor den Stücken stehenblieben und den Mund kaum zu schließen wagten. Er wusste, dass er sein Handwerk besser beherrschte als die meisten Gesellen. Er wusste auch, dass er ein Meister sein könnte, den Fähigkeiten nach. Aber dieser Ehrgeiz fehlte ihm.
Luuk ging abends nicht aus. Er blieb lange in der Werkstatt, wo auch immer die sich befand, selbst im Sommer, wenn es heiß war oder im Winter, wenn sie nichts zu heizen hatten. Außer der Werkstatt gab es für ihn irgendein Kämmerchen; wenn es hart auf hart kam, nahm er mit einem Lager auf dem Boden der Werkstatt vorlieb. Er schlief in jedem beliebigen Bett, ob es weich oder hart war. Es genügte ihm, wenn er zuvor Brot oder eine Suppe bekommen hatte, und immer gab es irgendwo eine Küche, bei der er das Essen am Seiteneingang kaufen konnte. Er mochte es nicht, unter Menschen zu gehen.
Er hätte sein Essen in einem Gasthaus essen können, manchmal auch bei der Familie des Meisters. Aber das war ihm zu viel Gesellschaft. Dort waren Menschen, die etwas wissen wollten und Mutmaßungen anstellten, wieso er allein durch die Welt wanderte. Das ging niemanden etwas an. Da er den Leuten nicht den Mund verbieten konnte, suchte er die Einsamkeit.
Es gab trotzdem zu viele Gelegenheiten, anderen Menschen zu begegnen. Laurentien war nicht die erste Tochter eines Meisters, die auf ihn aufmerksam geworden war. Schon oft hatte er erlebt, wie die Mädchen sich zu ihm in die Werkstatt setzten, ohne auf den Schleifstaub Rücksicht zu nehmen, wie sie zu lachen begannen und erröteten, wenn er sie ansah. Sie hingen mit Blicken an ihm. Luuk war hochgewachsen, gerade und breitschultrig. Er hatte Augen so blau wie Kornblumen und dazu schwarzes Haar. Wären seine Lippen nicht fest zusammengepresst gewesen, dann hätte man sehen können, wie voll und rot sie waren. Die Weiber sahen ihn gern an, wohin er auch kam.
Er sah die Weiber auch gern an.
Es war nicht so, dass er nicht gewisse Bedürfnisse gehabt hätte. Eine schöne Frau verfehlte die Wirkung auf ihn nicht. Wenn sich die Gelegenheit bot, ergriff er sie, denn ein Mann war ein Narr, wenn er es nicht tat. Luuk war nicht von der Sorte, dass ihm die Frau gleichgültig war, zwischen deren Schenkel er sich legte. Er hatte gelegentlich den Fehler gemacht, sein Herz auf die Zunge zu legen. Wenn die Gefühle heftig wurden, konnte auch Luuk viel und lange reden; nicht über schwierige Dinge, nur über Pferde, Felder, Bauernarbeit. Das überraschte seine Gegenüber. Einmal hatte sich eines der Mädchen aus seinen Armen gelöst und ihn erstaunt angesehen. »Luuk, warum redest du auf einmal so viel? Du hast mir gefallen, weil du so still bist.« Auch das hatte Luuk erlebt.
Meist kam es andersherum. Die Mädchen suchten seine Nähe, schlichen um ihn herum, versuchten seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, lachten, kicherten und blieben an seiner Seite kleben. Irgendwann wurden sie drängender. Wenn er redete, glaubten sie sich auf dem Weg zum Sieg und hofften, dass er mehr von sich preisgeben würde. Das war es jedes Mal, worauf es hinauslief. Sie wollten alles über ihn wissen, damit sie einschätzen konnten, ob er bliebe, ob er geeignet war, zu heiraten und eine Familie zu gründen.
Luuk redete nie über die Dinge, die sie wissen wollten. Auch Laurentien hatte er nichts von seinem bisherigen Leben erzählt. Was hätte er auch sagen können? Er war nichts. Er hatte keine Bedeutung. Hätte Bente ihn nicht gefunden und zusammen mit ihrem Sohn aufgezogen, dann gäbe es ihn überhaupt nicht. Nach dem Willen seiner eigentlichen Eltern wäre er längst tot, als kleines Kind erfroren draußen vor der Kirchentür von Hazerswoude. Er verdankte Bente sein Überleben, aber Bente hatte bloß den Plan seiner Eltern durchkreuzt, ihn als Kind in der Kälte auszusetzen und damit sterben zu lassen.
Worauf hätte er stolz sein sollen? Was er besaß, waren zwei gesunde Hände. Sie waren das Beste an ihm. Dass Gott ihm ein solches Aussehen geschenkt hatte, war nicht sein Verdienst. Es war eine Plage. Es beschwerte ihn mit der Aufmerksamkeit der Menschen, und das war etwas, was er nicht gebrauchen konnte.
Er war mit Laurentien über die Wiesen gelaufen. Laurentien war nicht anders als die anderen Mädchen. Sie sah ihn von der Seite an und lächelte. Sie drückte seine Hand, wenn er ihr den Kopf zuwandte. Schließlich blieben sie am Rand der Wiese stehen, hinter der ein großes Feld begann. Sie sahen eine Weile schweigend über den Acker in den Sonnenuntergang.
»Mein Vater hält große Stücke auf dich«, erklärte sie mit einem Mal. Sie sah ihm aufmerksam ins Gesicht, als forsche sie nach etwas Ungesagtem.
Luuk nickte. »Ich weiß.«
Laurentien hob die Augenbrauen. »Du weißt das? Er spricht so etwas nie aus. Ich wette, er hat dich noch nicht ein einziges Mal gelobt.«
Nun lächelte Luuk. »Das ist nicht nötig. Ich sehe es. Er gibt mir die schwierigen Aufträge und lässt mich allein mit den Leuten reden.«
»Du bist der Einzige, der mit den Flamen ihr komisches Holländisch, mit den Wallonen Französisch und mit den Limburgern Deutsch reden kann.«
»Du sprichst doch auch mit den Niederländern Holländisch.«
Laurentien lachte. »Ja, weil es meine eigene Sprache ist. Welches ist eigentlich deine Muttersprache? Bist du ein echter Holländer?«
Luuk schwieg. Das war eine der Fragen, die über die Grenze gingen. Solche Fragen beantwortete er aus Prinzip nicht. »Wie man’s nimmt.«
Das war sein übliches Ausweichen, eine Antwort aus dem Katalog der Nichtantworten. Es gab eine Menge Sätze, die er für solche Gelegenheiten parat hatte. Es waren Sätze wie »Man hat sein Schicksal zu tragen« oder »Keiner kann es sich aussuchen«. Er wechselte dann jedes Mal unauffällig das Thema. Jetzt fragte er: »Aber deinem Vater geht es nicht um die Sprachen, oder?«
»Oh nein«, Laurentien strahlte. »Mein Vater sagt, dass du ein besserer Schreiner wärst als er selbst.«
Verblüfft drehte sich Luuk zu Laurentien. »Ich denke, er lobt nie?«
Laurentien lachte. Sie besaß runde Pausbacken und glattes braunes Haar. Ihre Lippen waren voll und weich, sie leuchteten in einem hellen Rot von der Farbe einer Mohnblume. Ihre weiße Mädchenhaube strahlte. »Mein Vater ist genau wie du. Ihm muss man jedes Wort aus der Nase ziehen. Deshalb mag er dich so.«
Luuk schluckte. »Er mag mich?«
»Ja.« Laurentien wurde mit einem Mal ernst. Sie öffnete ihre großen grünen Augen weit. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass ihre Augen von einem solch intensiven Grün waren, dass sie der Farbe der Wiese ähnelten. Sie sah ihn an, ohne zu zwinkern, und stellte sich quer vor ihn, mitten in seinen Blick über das Feld. »Er würde mich dir zur Frau geben. Das weiß ich. Er würde dich gern als seinen Nachfolger sehen. Du brauchst nur um meine Hand anzuhalten.«
Luuk schwieg geschockt. Er hatte mit einem angenehmen Spaziergang gerechnet, mit einer freundlichen Plauderei, aber nicht mit so etwas. Er wäre nicht an diesem strahlend schönen Maisonntag mit Laurentien hinausgegangen, wenn er geahnt hätte, dass sie so etwas sagen könnte.
Es war nur seiner Überraschung zuzuschreiben, dass er entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten antwortete: »Aber ihr wisst doch gar nichts von mir. Ich könnte der schlimmste Mensch sein.«
Laurentien griff seine beiden Hände. »Du bist nicht von Stand oder irgendwas und besitzt keinen Stuiver. Aber du bist ein genialer Schreiner, erfreust jedem die Sinne mit deinem Anblick und hast ein gutes Herz. Glaub mir, das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe, wenn ich von einem Mann geträumt habe.«
Stille senkte sich über den Acker. In der Wiese zirpte eine Grille, lautlos segelte ein Rotmilan über ihnen.
Luuk sprach nicht mehr.
Er kannte das. Jedes Wort konnte jetzt falsch sein, und die Sache würde eine Wendung nehmen, der er nicht mehr in der Lage wäre zu entfliehen. Er nahm Laurentiens Hand und drückte sie. Er mochte sie gern, sehr gern, er liebte ihr Lachen und ihr Haar und die Grübchen in ihren Wangen, aber er konnte ihr nichts davon sagen. Er durfte nicht. Es wäre ein Fehler gewesen. Einmal ausgesprochene Worte kann man nicht zurückholen.