Am 22. Mai 1706, demselben sonnigen Tag, an dem die Spezereienhändlerin Magdalene Lichtenberg im Hafen von Hamburg den Schnellsegler nach Rotterdam erreichte, betrat Karl Carstensen den Laden des Spezereienhandels in Halle wie ein gewöhnlicher Käufer. Er sah sich in den Regalen um, als wäre er zum ersten Mal hier, betrachtete die Töpfe, Kisten und Schalen ausgiebig, aber dieses Schauspiel war nur für den Lehrjungen Andreas Brodsame gedacht, der hinter dem Tisch stand und ihn freundlich begrüßte.
Karl strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Er kannte die Regale mit Zimt, Brunellen, Duftwasser, Cacao, Canariwurz und all den anderen teuren Waren, hatte die Krüge und Körbe schon viele Male gesehen. Seit er hier zur Untermiete gewohnt hatte, waren drei Jahre vergangen. Den Geruch dieses Hauses hatte er gemocht, als er hier lebte, die Bewohner nicht. Sie waren ihm zu laut und zu besserwisserisch, und er misstraute ihrer Fröhlichkeit, wie er jeder Art von Fröhlichkeit misstraute. Weder die Händlerin noch ihr sogenannter Ehemann zählten für ihn zu den Menschen, denen er ein gutes Leben gönnte, erst recht nicht deren Kindern. In einer perversen Perfektion spielten sie die ordentliche Familie, obwohl jeder von ihnen wusste, dass sie das nicht waren. Auch Karl wusste das. Er war einmal Teil dieser Inszenierung gewesen. Er hatte den ordentlichen Studenten gespielt, wohnte in einer Kammer unterm Dach, genoss dort zwei Jahre lang das Leben mit seinem Freund Friedrich von Erlau und noch lieber ohne ihn.
Andreas Brodsame war der einzige Verkäufer im Spezereienladen, der Karl Carstensen nicht kannte. Er war erst Lehrling geworden, nachdem Karl und Friedrich ihr Studium abgebrochen hatten und nach Leipzig gegangen waren. Das war der Grund, warum Karl mit seinem Besuch auf einen Augenblick gewartet hatte, als sich der Junge allein im Laden befand.
Es war leicht, eine Unterhaltung mit dem Lehrjungen zu beginnen. Zehn Tage zuvor hatte es mittags eine Sonnenfinsternis gegeben, und über zwei Stunden lang blieb es in der Stadt dunkel wie in der tiefsten Nacht. Die Leute waren noch immer aufgeregt und sprachen von nichts anderem, und auch Karl fing mit dem sommersprossigen Jungen darüber an zu reden. Der Junge nickte und erläuterte, dass er die Sache pragmatisch sähe, seiner Meinung nach sei nur der Mond dem Sonnenschein im Wege gewesen. Der Sonnenball wandere schließlich gut berechenbar über den Himmel. Es sei also keine Strafe Gottes gewesen, sondern sein Plan.
Karl nickte und lobte den jungen Mann für sein Wissen und seine Glaubenstreue. Es war gut, die Leute in Sicherheit zu wiegen, und er merkte, wie sein Gegenüber auftaute und sich über das Lob freute.
Karl genoss seine Macht. Er liebte es, Situationen zu beherrschen und seinen Gegnern einen Schritt voraus zu sein. Er wusste, dass der alte Spezereienhändler Jakob Lichtenberg am liebsten in seinem Kontor im ersten Stock hocken blieb, weil er an Schmerzen in den Gliedern litt. Er hatte den Mann noch erlebt, als er beweglicher war, aber da war er auch noch nicht im Gefängnis gewesen. Leute, die so etwas erlebt hatten, versteckten sich lieber. Auch Karl kannte Gefängnisse von innen, aber ihm wäre das nicht eingefallen. Ihm konnte nichts passieren, er hatte sich bisher mit Hilfe seiner besonderen Fähigkeiten aus jeder Falle befreien können. Er brauchte sich nicht zu verstecken, im Gegenteil: Ein Mann wie er musste sich zeigen.
Das Grinsen auf seinem Gesicht, das der Lehrjunge für ein Lächeln hielt, blühte, weil Karl sich darauf freute, bald an sein Ziel zu kommen. Dieser Grünschnabel würde ihm den Weg zu viel Geld ebnen, ohne es zu ahnen. Eines Tages, das wusste Karl, würde er reich sein. Er würde in einem großen Haus leben, sich nach Strich und Faden bedienen lassen und jenen Leuten einen Lektion erteilen, die ihm das bisher verweigert hatten. Karl war zwar erst siebenundzwanzig Jahre alt, aber in jedem der Jahre hatte er tief reichende Erfahrungen gesammelt. Jede dieser Erfahrungen führte dazu, dass sein Instinkt wuchs. Er war in der Lage, Bewegungen in seinem Rücken zu erfassen. Er konnte hören, was andere dachten. Er konnte so schnell Schlüsse aus den Regungen anderer ziehen, dass seine Reaktionen ihm jederzeit das Leben retten würden. Und er kannte die Abgründe der Menschen, weil er selbst voller Abgründe steckte.
Er wusste, dass Grete, die ältere Tochter, zu ihrem Vater nach oben gegangen war und alle anderen in diesem Haus keine Gefahr für ihn darstellten, weder die neuen Studenten noch die Magd oder die jüngere Tochter. Die waren nicht dabei gewesen, als er hier unter dem Dach in der schmalen Kammer wohnte. Sie konnten ihm nicht gefährlich werden. Dass Karl von der Obrigkeit gesucht wurde, war in Halle in Vergessenheit geraten. Hier dachten alle nur daran, sich mit ihrer Arbeit zu plagen und am Ende ihr bisschen Salz zu verkaufen. Er war klug genug gewesen, sich für eine Weile zu verdrücken. Erst jetzt war er wieder da. Niemand war der Schläue eines Karl Carstensen gewachsen.
Karl lächelte zufrieden.
Andreas Brodsame beantwortete die nächste Frage des Besuchers höflich, obwohl sie nichts mit dem Handel zu tun hatte. Der Mann wollte wissen, wohin die Frau Meisterin gereist sei, und er schien mit der erhaltenen Auskunft zufrieden zu sein. Sie sei nach Holland aufgebrochen, antwortete Andreas stolz. Eine weite Reise verriet Wohlstand, und Wohlstand bewiesen solche Leute gern. Karl konnte in den Gedanken des Jungen lesen, wie gern er damit prahlte. Das Rotterdamer Kontor der Batavia-Handelsgesellschaft könne mehr sagen, sagte Andreas, aber er wisse deren Adresse nicht. Karl kannte sie, aber das verriet er dem dummen Jungen nicht.
Als die Tür hinter Karl zuschlug, dachte Andreas angestrengt nach, wo er den Mann schon einmal gesehen haben konnte, denn die blonden Locken und die weiche, hohe Stimme mit ihrem mecklenburgischen Klang kamen ihm bekannt vor. Karl wusste nicht, dass sie sich durchaus schon einmal begegnet waren.
Aber in jener Nacht ein Jahr zuvor, als sie sich ein einziges Mal zur selben Zeit am selben Platz aufgehalten hatten, hatte es kein Licht gegeben. Darum ahnte Andreas nicht, dass er den Teufel auf die Spur von Magdalene Lichtenberg gesetzt hatte. Erst Wochen später unterhielt er sich mit Grete darüber, und die düstere Ahnung, dass die Fragen des blonden Mannes einen bösartigen Grund gehabt hatten, verdichtete sich. Aber niemand von ihnen konnte zu dieser Zeit noch etwas tun. Kein einmal ausgesprochenes Wort ist zurückzuholen, keine beruhigende Geste und kein ermutigendes Lächeln verringerte die Schuld, die der Junge fühlte, wenn er seine naive Gesprächigkeit an diesem Tag im Mai 1706 dachte.