Willem van Ruysdael schulterte den Mantelsack. Er war froh, am Stadttor von Halle den schwankenden Boden der Kutsche verlassen zu können. Dass sein Gepäck schwer wog, machte ihm nichts aus. Er war dreißig Jahre alt, gesund und kräftig. Das Reisen gehörte zu seinem Beruf, es gab in seiner Branche keinen Auftrag, für den man nicht reisen musste. Nicht selbst laufen zu müssen, war schon ein Luxus.
Er hielt sich neben der Straße, auf der die Fuhrwerke zum Marktplatz unterwegs waren. Zu Fuß ging es sich an der Seite besser, wo die Karrenspuren weniger tief in den Schlamm gefräst waren. Vor sechs Jahren, als er Dresden kurz vor Ende 1698 verließ, hatte er mit dem Gedanken gespielt, als Student nach Halle zu ziehen. Nun war er neugierig auf die Stadt, die er verpasst hatte.
Die Reisebücher hatten nicht viel hergegeben. Ein paar Studenten schrieben über die junge Universität, aber ihren Berichten traute Willem nicht. Er wusste, dass Halle durch und durch protestantisch war, darum trug er von Beginn der Reise an die dunklen Kleider, die ihn hier am wenigsten auffällig machten. Es war wichtig, dass er nicht auffiel. In der Gesellschaft behaupteten sie, Willem wäre ihr bester Schauspieler, aber dafür war mehr nötig als die richtigen Kleider. Es gehörte eine Rolle dazu, die zum Auftrag passte. Zu mancher Mission gehörte es, als reicher Lebemann aufzutreten, zu einer anderen, sich als wandernder Handwerker auszugeben. Eine Rolle anzunehmen bedeutete: auf die richtige Weise zu sprechen, zu handeln, angezogen zu sein, sich zu benehmen, sogar zu riechen. In Halle war er ein Kaufmann. Er spielte den holländischen Kaufmann Willem van Ruysdael, der für die Batavia-Handelsgesellschaft eine neue Geschäftsbeziehung anzuknüpfen hatte. In dieser Rolle würde er von anderen Handelsleuten erfahren, was er wissen musste.
Willem seufzte. Er würde nach besten Kräften seine Arbeit tun, so wie jedes Mal. Ein Herbsttag lag in seinen Nebelkissen, Dienstag, der 21. Oktober 1704. Willem war mit der Kutsche durch die halbe Nacht die Strecke von Magdeburg nach Halle gereist. Er brannte darauf, endlich etwas zu tun – um diesen unseligen Auftrag so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Und dazu musste er zügig den nächsten Namen auf seiner Liste abarbeiten.
Die Stadt war von mehr Menschen bevölkert, als er erwartet hatte. Das lag vielleicht an den vielen jungen Männern, unter denen Willem vor allem Studenten vermutete. Sie waren nicht viel älter als zwanzig, naseweise Kerle, die sich ohne Aufsicht aufführten wie ungezogene Kinder. Vor ihm ging einer durch den Schlamm und trat so fest auf, dass er die neben ihm gehende Bäuerin bespritzte, die sich mit ihrer Kiepe auf dem Rücken abmühte und nicht ausweichen konnte. Sie schimpfte und drohte mit dem Finger, aber der Student und seine Kommilitonen lachten nur laut und fingen an zu rennen, was umso mehr spritzte.
Willem fragte sich, ob er mit zwanzig ebenso gewesen war. Ja, gestand er sich beschämt ein. An all das, was er vor seiner Begegnung mit Eleonore erlebt hatte, erinnerte er sich ungern. Er war ein Betrüger gewesen, aber er hatte die Sünde nicht gesehen. Es war Spaß gewesen, so wie alles im Leben. Jemanden zu betrügen, der sich betrügen ließ – war das nicht dessen Schuld? War es nicht der Sieg der Klugheit, wenn man einen Dreh fand, mit dem man sich das Leben schöner, angenehmer, reicher machen konnte?
Nein, das war es nicht. Wäre Willem nicht Johann und seiner Schwester Eleonore begegnet, dann wäre er vielleicht heute noch ein Fälscher, der sich so lange das Vermögen anderer aneignet, bis ihm einer auf die Schliche kommt. Vielleicht hätte er aber schon den Tod am Galgen gefunden. Heute verwendete er seine Fähigkeiten für die Batavia-Handelsgesellschaft und war sicher, damit auf die andere Seite gewechselt zu sein, die Betrüger zur Strecke brachte. So oder so, sein Leben hatte sich zum Guten gewendet, und das hoffte er auch für die Studenten.
Er blieb auf dem Marktplatz neben einem beeindruckenden Turm stehen, der mit seiner Spitze sogar höher aufragte als die Kirche mit den vier Türmen ein paar Schritte weiter, von der er in seinem Reiseführer gelesen hatte. Er umrundete den Turm und sah sich dem Wachhaus der Garde gegenüber. Er hätte nicht recht sagen können, warum er sich von den Männern in der blauroten Uniform abwandte. Gehörte er nicht zu ihnen, zu den Guten? Vielleicht doch nicht, vielleicht befand er sich irgendwo zwischen Gut und Böse und musste seinen Weg selbst suchen. Für ihn wäre das Soldatsein nichts gewesen, auch nicht ein Leben als Offizier. Immer im gleichen Trott! Immer dieselben Kleider! Einer von vielen, dessen Gedanken niemanden interessierten! Nein, er war jemand, der seinen Weg selbst suchte. Und fand.
Die Marienkirche mit den vier Türmen gefiel ihm. Er betrat das Kirchenschiff, ging nach hinten und stellte den Mantelsack neben sich ab, um für ein Gebet niederzuknien. In Kirchen blieb er immer hinten, von wo er den großen Raum überblicken konnte. Misstrauen war zu seinem Wesen geworden, denn ein Kundschafter durfte niemals einen Feind im Rücken haben. Ein paar Mütterchen knieten auf Bänken und murmelten ihre Psalmen, niemand sah sich nach ihm um.
Gott, gib mir die Kraft, auch diesen Auftrag gut zu Ende zu bringen, betete er tonlos. In der Kirche herrschte Stille, nur der Hall leiser Schritte klang von fern. Eine Ruhe ergriff ihn, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Als er aufstand, fühlte er sich voller Kraft.
Jakob Lichtenberg, Spezereienhändler.
Das war der zweite der Männer, die er nach Wissen über Friedrich von Erlau aus dem Leipziger Böttchergässchen auszuforschen hatte.