Bei Einbruch der Nacht erreichen wir das Ufer des Rheins. Das Wasser fließt dunkel und ruhig, und in der Dämmerung ragt Niederwerth aus tiefhängenden Nebelschwaden inmitten des Flusses hervor wie einst die Insel Avalon. Die Luft an diesem Septemberabend des Jahres 1338 ist angenehm kühl. Geschwächt von der Reise steige ich von meinem Esel. Es ist ein bockiges Tier, störrisch und faul, und sein Rücken trotz der Wolldecke hart wie ein Brett. Mein Gesäß und mein Rücken schmerzen. Ich trete an das steinige Ufer, knie mich hin und danke Gott, mich hierher geführt zu haben. Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, wenn auch die mich plagenden Zweifel bleiben.
Was habe ich denn geglaubt, erreichen zu können? Mein Weg war beschwerlich gewesen, eine Irrfahrt von mehreren Jahren, die auf dieser Insel nördlich der Reichsstadt Koblenz nicht enden wird. Wo und wann ich Ruhe finden werde, ist ungewiss. An zu vielen Orten habe ich diese Ruhe bereits gesucht, in Irland, Frankreich und Italien, um nach Wochen oder Monaten jedes Mal festzustellen, mich geirrt zu haben. Der Papst in Avignon hat mich in meinem Vorhaben bestärkt, obwohl er einer klaren Entscheidung ausgewichen ist. Zumindest ließ er mich ziehen. Er hätte mich in den Kerker sperren, mich als Verräter und Hochstapler verurteilen, meinen Kopf auf einem Pfahl zur Abschreckung vor seiner Residenz aufstellen oder ihn zurück nach England schicken und damit dessen König einen ruhigen Schlaf bescheren können. Dass er es nicht getan hat, mag vieles bedeuten. Vielleicht hatte er lediglich Mitleid mit einem alten, verwirrten Mann.
Hinter mir sind meine vier Gefährten von ihren Pferden gestiegen, und Niccolinus Fieschi legt mir seine Hand auf die Schulter.
„Wir müssen uns beeilen“, sagt er, „wenn wir den Fährmann noch erwischen wollen.“
Mit Niccolinus‘ Unterstützung erhebe ich mich und blicke in sein lächelndes Gesicht. Dieses Lächeln begleitet mich seit Italien. Es ist ein breites, über beide Mundwinkel sich erstreckendes Lächeln, das seine dunklen Augen zu kleinen Schlitzen verzerrt und dessen Aufrichtigkeit ich nicht gänzlich vertrauen kann. Der Grund dafür ist schwer zu benennen. Vermutlich, weil sein Gesicht dadurch zu einer Fratze verkommt, als würde der Teufel für einen Augenblick sich seiner bemächtigen. Vor allem aber, weil der Papst mich unter den Schutz seiner weit verzweigten Familie gestellt hat, mit der Auflage, mich überallhin zu begleiten. Dass ich zuvor auch allein gut zurechtgekommen bin, spielte keine Rolle. Unter dem Vorwand einer mir drohenden Gefahr wurden seine Verwandten und später Niccolinus mehr und mehr zu meinen Bewachern denn zu gleichgesinnten Mitreisenden.
„Es ist nur ein kurzes Stück, dann ist es geschafft.“
Niccolinus deutet durch die Bäume und Sträucher entlang des Ufers. Entfernt erkenne ich einen Steg, der dunkler als das Wasser in die Fluten ragt, und einen tief liegenden, mit den Wellen auf und abwiegenden Kahn.
Meine drei anderen Begleiter gehen voran, ihre stattlichen Pferde an den Zügeln haltend. Sie tragen Schwerter und Dolche unter den weiten Mänteln und haben, seit wir Koblenz am frühen Morgen verließen, kaum ein Wort mit mir gesprochen. Ihr Anführer, Francesco Forzetti, ist Italiener wie Niccolinus. Im Gegensatz zu seinem liest sich Francescos Gesicht wie ein offenes Buch. Seine Abneigung ist deutlich zu spüren, in seinem Blick wie auf seinen schmalen, verbissenen Lippen. Er glaubt mir kein einziges Wort, weder den Berichten meiner Reise und erst recht nicht den Behauptungen hinsichtlich meiner Identität. Hätte sein Befehl gelautet, mich umzubringen, er hätte mich, da bin ich überzeugt, ohne mit der Wimper zu zucken mit dem Schwert durchbohrt.
Stattdessen hat er Niccolinus und mich in Koblenz aufgespürt und uns den Rhein entlang begleitet. Weniger zum Schutz, wie ich annehme, als vielmehr, um einer möglichen Flucht in letzter Minute vorzubeugen. Woher er meinen Aufenthaltsort in Koblenz kannte, ist mir ein Rätsel. Es sei denn, sein Auftraggeber steht mit Niccolinus in Kontakt.
Die zwei Soldaten an Francescos Seite sind von niedrigerem, englischem Stand. Ihre Mäntel sind abgenutzt, und die Kaninchenfelle an den Kragen von Motten zerfressen. Ihre Gesichter sind rau und ausdruckslos. Den einen entstellt eine Narbe, die sich von der Stirn bis zum rechten Augenlid erstreckt, den kleineren der beiden ein fehlender Schneidezahn. Auch sie gehorchen dem Befehl von allerhöchster Stelle.
Der Uferpfad, dem wir folgen, ist schmal und aufgeweicht. Niccolinus flucht, weil seine neumodischen Schuhe mit den langen, nach oben gebogenen Spitzen im Matsch versinken. Trotz der langen, beschwerlichen Reise, die er mit mir zurückgelegt hat, will er auf seinen Standesdünkel nicht verzichten. Seine Kleidung ist auffallend bunt, mit Stickereien verziert, und seinen Mantel säumt das Fell eines Fuchses.
Ich selbst lege auf Äußerlichkeiten längst keinen Wert mehr. Als Eremit ist meine Kleidung einfach und farblos. Ich trage einen schwarzen Mantel aus grober Wolle mit spitzer Kapuze und einen Gürtel aus Hanfseil, darunter einen weißen Rock aus Leinen. Meine Lederschuhe sind durchgelaufen und scheuern an den Fersen. Zudem trage ich ein Büßerhemd aus Rosshaar direkt auf der Haut, weshalb meine Brust und mein Rücken mit rotem Ausschlag übersät und von Flohbissen geplagt sind. Der Drang, mich zu kratzen, ist groß, und nur die Gewissheit, dass Kratzen auf Dauer nicht hilft und dass das Leiden mich näher zu Gott führen wird, hält mich die meiste Zeit davon ab.
Der Fährmann, der seine Siebensachen für die Nacht zusammenpackt, sieht uns kommen und richtet sich auf. Als Francesco als erster den Steg betritt, schüttelt er heftig den Kopf.
„Ihr kommt zu spät, werte Herren“, sagt er und lässt den Blick über unsere ungleiche Gruppe schweifen. „Morgen bei Sonnenaufgang kann ich euch übersetzen.“
Ohne ein Wort zieht Francesco eine Silbermünze hervor und wirft sie dem Fährmann entgegen. Blitzschnell hat dieser sie gefangen.
„Es gibt eine weitere, wenn wir drüben sind.“
Der kleine, schmächtige Mann starrt auf die Münze in seiner Hand. Es ist viel Geld für einen Tagelöhner wie ihn.
„Verbindet den Tieren die Augen“, sagt er und legt die Planken, die auf dem Steg liegen, auf den maroden Kahn. „Es wäre nicht das erste Mal, dass Pferde in Panik ins Wasser springen und den Kahn zum Kentern bringen.“
„Nicht nötig“, wehrt Francesco ab. „Unsere Pferde sind solche Überfahrten gewohnt.“
„Wie Ihr meint, mein Herr. Was ist mit dem Esel?“
Bereits beim Betreten des Stegs ist mein Esel nervös geworden. Niccolinus reicht mir ein besticktes Tuch, und ich binde es dem Tier um die Augen. Ich kann nur hoffen, dass diese Maßnahme genügt, sollte der Boden unter seinen Hufen zu schwanken beginnen. Die beiden Soldaten führen die Pferde auf den Kahn, und tatsächlich zeigen sie keinerlei Scheu. Mein blinder Esel dagegen bedarf einiger Überzeugung. Schließlich, nach mehreren Schlägen auf sein Hinterteil, hat das Tier es geschafft und verhält sich ruhig. Bevor auch ich den Kahn besteige, halte ich inne und blicke, von einer düsteren Ahnung bestürzt, über den Fluss.
„Was ist?“, fragt Niccolinus, die Hand nach der meinen ausgestreckt, um mir beim Gang über die Planken behilflich zu sein.
„Tue ich das Richtige?“, antworte ich so unerwartet mit einer Gegenfrage, dass Niccolinus lachen muss.
„Das Richtige? Machst du Witze? Auf dieses Treffen wartest du seit Jahren, und plötzlich befällt dich die Scheu?“
„Denkst du, er wird mir glauben?“
„Wen interessiert es?“
„Der Papst zumindest hat mir geglaubt.“
„Hat er das gesagt?“ Niccolinus sieht mich spöttisch an. „Und selbst wenn … Das ist lange her, und der Papst ist ein anderer. Außerdem geht es nicht darum, ob du die Wahrheit sagst. Es ist nie um die Wahrheit gegangen. Es geht um die Sache, die du verkörperst. Ganz gleich, ob du ein Hochstapler bist oder nicht.“
Von Niccolinus‘ Worten gekränkt, weiche ich einen Schritt zurück. Die Sache, von der er spricht, hat mich nie interessiert. Politik habe ich lange genug betrieben. Seit ich quer durch Europa wandere, ist mir bewusst geworden, wie sehr Politik die Menschen ins Unglück stürzen kann. Daran will ich nicht länger beteiligt sein.
Ein weiteres Mal streckt mir Niccolinus die Hand entgegen, und ich weiß, dass es, so kurz vor dem Ziel, für eine Umkehr zu spät ist.
Der König von England erwartet mich.
Inzwischen ist es dunkel geworden und der Nebel hat sich aufgelöst. Während der Überfahrt erkenne ich die Silhouette der Insel Niederwerth, die sich vom klaren Nachthimmel abhebt und auf dem glitzernden, vom Sichelmond beschienenen Wasser zu schweben scheint. Für mich ist diese kurze Fahrt wie die Überquerung des Flusses Styx in umgekehrter Richtung. Und Charon, der greise Fährmann, geleitet mich gegen Bezahlung aus dem Totenreich zurück zu den Lebenden.